Anne Tyler – Drei Tage im Juni

Wenn ich richtig gezählt habe ist Drei Tage im Juni bereits der 25. Roman von Anne Tyler. In Deutschland werden die Werke der 1941 geborenen US-Amerikanerin oft ein wenig geringgeschätzt und allzu eifrig in die Unterhaltungsschublade gesteckt. Im englischsprachigen Raum, wo die Grenze zwischen E- und U-Literatur nicht ganz so eifersüchtig bewacht wird, hat Anne Tyler 1989 für ihren Roman Atemübungen den Pulitzer Prize erhalten und war 2015 mit Der leuchtend blaue Faden für den Booker Prize nominiert. Für mich ist sie mit ihren lebensklugen, warmherzigen und heiteren Romanen eine Lieblingsautorin, und das seit Jahrzehnten. Weiterlesen „Anne Tyler – Drei Tage im Juni“

Emilienne Malfatto – Die Schlangen werden dich holen

Am 5. Januar 2019 wird die 62-jährige Maritza Queiroz Leiva auf der Finca El Diviso im Dschungel der kolumbianischen Sierra Nevada, unweit des karibischen Meers, erschossen. Die Hintergründe der Tat bleiben im Dunkeln und werden von den öffentlichen Stellen nicht näher untersucht. In Kolumbien werden trotz Friedensabkommen der Regierungen mit den verschiedenen Guerillagruppen, wie beispielsweise 2016 mit der FARC, nach wie vor Menschen, die den Mächtigen im Weg stehen – seien es politische Gegner, soziale oder Klimaaktivist:innen – bedroht und ermordet. Nach 50 Jahren Krieg und geschätzt bis zu einer halben Million Todesopfern, zählte man auch 2019 noch 250 Morde, 2023 lag die Zahl bei 188. Ganz gleich, ob sie sich der Drogenmafia, Kaffeebaronen, Tourismusentwicklern oder dem Bergbau entgegenstellen, engagierte Bürger leben gefährlich. Die französische Journalistin, Fotografin und Autorin Emilienne Malfatto hat den Fall Maritza Queiroz Leiva untersucht und darüber die literarische Reportage Die Schlangen werden dich holen verfasst. Weiterlesen „Emilienne Malfatto – Die Schlangen werden dich holen“

Tijan Sila – Radio Sarajevo

Geschätzt mehr als 11.000 Todesopfer forderte die Belagerung der Stadt Sarajevo durch die Armee der bosnischen Serben, Reste der jugoslawischen Bundesarmee und Paramilitärs während des Bosnienkriegs. Fast vier Jahre, von April 1992 bis Februar 1996 dauerte sie an. Ständiger Beschuss, Scharfschützen, Mangel an Heizmaterial und Lebensmitteln und zunehmend unzureichende medizinische Versorgung bedeutete das für die knapp 400.000 Einwohner, unter ihnen der 11jährige Tijan. Dieser lebte mit seinen Eltern, die als promovierende Literaturwissenschaftlerin und Professor für Bibliothekswesen dort absolute Außenseiter waren, in einer Plattenbausiedlung. Von diesen Jahren und ihren Nachwirkungen erzählt Tijan Sila in seinem Buch Radio Sarajevo.
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Titti Marrone – Besser nichts wissen

Bei einem Verlagsnachmittag im September lernte ich die Autorin und Übersetzerin Klaudia Ruschkowski kennen. Passend zum diesjährigen Gastlandschwerpunkt auf der Frankfurter Buchmesse hat sie beim Verlagshaus Römerweg eine feine kleine Reihe mit italienischen Autorinnen herausgegeben, „Perlen“ genannt. Ich habe sie auf Instagram bereits gezeigt und vorgestellt, ein ausführlicher Bericht folgt auch hier bald. Bei diesem Treffen kam die Sprache auch auf einen bereits im vergangenen Jahr im S. Marix Verlag erschienenen Titel, den Klaudia übersetzt hat. Die bekannte italienische Journalistin und Autorin Titti Marrone hat ihr berührendes Buch über das Schicksal dreier jüdischer Kinder, die zusammen mit ihren Müttern aus Fiume (damals noch zu Italien gehörend, heute Rijeka) zunächst in das einzige italienische Konzentrationslager Risiera di San Sabba bei Triest und von dort nach Auschwitz deportiert wurden, „Besser nichts wissen“ (Original: „Meglio non sapere“, 2003) betitelt. Weiterlesen „Titti Marrone – Besser nichts wissen“

André Kubiczek – Nostalgia

Viele Romane und auch Sachbücher kreisen zurzeit um Kindheiten und Jugenden in der DDR, meist um solche, die dort starteten und dann durch Mauerfall und Wiedervereinigung eine Zäsur erfuhren. André Kubiczek trägt mit seinem autofiktionalen Roman Nostalgia eine etwas andere Sicht darauf hinzu. Weiterlesen „André Kubiczek – Nostalgia“

Lektüre November 2024

Der November 2024 war wieder ein richtig guter Lektüre Monat für mich. Nachdem ich im Oktober zwar viel Literatur erlebt habe, aber wenig gelesen, gab es im November nicht nur sehr viele Seiten – unbeabsichtigt, man könnte fast meinen, ich hätte was nachzuholen gehabt 😉 -, sondern auch qualitativ herausragende Bücher. Allen voran vielleicht die Buchpreis-Gewinnerin Martina Hefter mit Hey guten Morgen, wie geht es dir? Ein Buch, das ich fast nicht gelesen hätte, das mich aber absolut abgeholt hat. Fast als wäre es für mich geschrieben worden.

Natürlich habe ich auch die Erstübersetzung eines älteren Modiano-Werks genossen – ihr kennt bestimmt mittlerweile meine große Liebe für diesen französischen Nobelpreisträger. Am überraschendsten war vielleicht meine Begeisterung für Schlaglicht von Rita Bullwinkel – ein Roman über junge Boxerinnen, wo ich mich doch tatsächlich null fürs Boxen interessiere oder es auch nur akzeptieren kann. Aber das schafft eben gute Literatur. Und nun viel Spaß beim Stöbern in meiner Lektüre vom Neovember 2024.

 

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Neuerscheinungen Frühjahr 2025 – Überblick Verlagsvorschauen

Das Jahr neigt sich dem Ende zu und ich übe mich erneut in einer meiner geliebtesten Bloggerinroutinen: Ich schaue auf die frisch angekündigten Neuerscheinungen für das kommende Frühjahr 2025 und versuche in meinem Überblick über die jedes Jahr nach den Messen nach und nach veröffentlichten Verlagsvorschauen die (für mich, aber hoffentlich auch für viele von euch treuen Leser:innen) interessantesten Titel herauszupicken und die spannendsten, vielversprechendsten, innovativsten, relevantesten Bücher vorszustellen.

Wer mir schon länger folgt, weiß, dass das eine sehr subjektive Auswahl sein wird. Bei immer noch mehr als 60.000 Neuerscheinungen im Jahr (tatsächlich rückgängig; 2007 lag die Zahl noch bei mehr als 86.000) muss man sich natürlich auf bestimmte Auswahlkriterien beschränken. Ganze Genres werden von mir sträflich vernachlässigt – New Adult, Romantasy, Fantasy, alles was zu cosy und zu leicht wiegt, wenig Krimi, wenig Sachbuch, auch wenn ich in den letzten Jahren von letzteren relativ viel lese (sie finden dann in den Monatslektüren ihren Platz). Auch viele sehr gehypte Bücher und kommende Spiegelbestseller, Werke von Starautoren gehen bei mir manchmal unter dem Radar – mir liegt das anspruchsvolle, aber nicht artifiziell sperrige oder allzu experimentelle, das inhaltslastige, historisch aufschlussreiche, gesellschaftkritische und – so oldschool das vielleicht klingt – menschenfreundliche, aufrüttelnde Buch am Herzen.

Ich weiß, dass es vielen von euch auch so geht. Die Überblicke über die Verlagsschauen sind seit Jahren die bei weitem am häufigsten geklickten Beiträge von LiteraturReich. Ich bedanke mich für euer Interesse und hoffe, wieder eine interessante Zusammenstellung der neuen Bücher für 2025 anbieten zu können. Viel Spaß beim Durchschauen!

Sind schon Webseiten der Titel vorhanden, findet ihr sie durch Klick auf den Buchtitel. Die Auswahl erfolgte wie immer völlig unabhängig und unbezahlt und nur aus Leidenschaft für gute Bücher.

Und wie immer gilt: Tipps, Anregungen und Einwände sind in den Kommentaren gern gesehen.

UPDATE: 13.12.2024

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Marta Barone – Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand

Gli anni di piombo – die bleiernen Jahre – wird in Italien die Zeit von Ende der 1960er bis in die 1980er Jahre hinein genannt, in der im Land große politische Unruhe herrschte, sowohl linksradikale als auch neofaschistische Terrorgruppen zahlreiche Attentate und Morde begingen und die Staatsgewalt darauf mit Härte reagierte. Die Entführung und Ermordung des christdemokratischen Parteichefs Aldo Moro am 16. März 1978 durch die linksextremistischen Brigate rosse war wohl eine der bekanntesten Aktionen. Zeitgleich trat in der BRD die RAF auf. Die Brutalität und Radikalität der von Marta Barone in ihrem autofiktionalen Roman Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand geschilderten Vorgängen waren allerdings in Italien noch erschreckender und die Mitglieder- und Sympathisantenzahlen der Untergrundorganisationen – vor allem der Roten Brigaden und der Primera Linea – weitaus höher. 197 Menschen fielen Ihnen zum Opfer. Weiterlesen „Marta Barone – Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“

Rita Bullwinkel – Schlaglicht

Es gibt weniges, das mich weniger interessiert als der Boxsport. Überhaupt kann ich mich für Sportthemen oder Sportromane selten begeistern. Wenn es einem Roman also gelingt, mich über mehr als 200 Seiten zu fesseln, obwohl ich keinerlei Interesse an seinem Hauptsujet besitze, dann spricht das sehr für dessen Qualität. Mir ist das tatsächlich vor längerer Zeit schon einmal passiert. Da ging es um Motorsport, tatsächlich etwas das ich noch abseitiger finde als Boxen. Der Roman hieß „Boxenstopp“ und war von Christiane Neudecker. Sie ist die Übersetzerin des hier zu besprechenden Romans Schlaglicht von Rita Bullwinkel. Zufall? Weiterlesen „Rita Bullwinkel – Schlaglicht“

Chetna Maroo – Western Lane

Erwachsenwerden und Sport, besonders auch das Aufwachsen in einem migrantisch geprägten Milieu und weibliche Sportlerinnen, sind zwei Themen, die in Romanen, besonders auch in solchen, die sich an eine jugendliche Leserschaft wenden, gern kombiniert werden. Und ein klein wenig hat mich der 2023 für die Shortlist des Booker Prize und 2024 für den Women’s Prize for Fiction nominierte Debütroman der britisch-indischen Autorin Chetna Maroo Western Lane auch an einen Jugendroman erinnert. Und das nicht nur wegen seiner jugendlichen Hauptprotagonistinnen, sondern auch wegen seiner klaren, schnörkellosen Sprache. Weiterlesen „Chetna Maroo – Western Lane“