Patrick Modiano – Die Tänzerin

1991 erschien ein Büchlein – Cathérine, die kleine Tänzerin, gewohnt zauberhaft bebildert von Jean-Jacques Sempé -, das vielleicht eine Art Vorläuferin des aktuellen Werks von Patrick Modiano war. Wie alle Werke des Literaturnobelpreisträgers ist es sehr schmal. Die Tänzerin nun mag man mit seinen knapp 93 Seiten kaum mehr Roman nennen. Und doch enthält es die ganze Modiano-Welt. Weiterlesen „Patrick Modiano – Die Tänzerin“

Matthias Lohre – Teufels Bruder – Kurz vorgestellt

Matthias Lohre erzählt in Teufels Bruder vom Jahr 1896 – Die Brüder Thomas und Heinrich Mann stehen noch ganz am Anfang ihrer schriftstellerischen Laufbahn. Thomas ist gerade volljährig geworden und lebt wie sein vier Jahre älterer Bruder von den eher dürftigen Zinserträgen des väterlichen Vermögens, das der Vater, Senator Thomas Johann Heinrich Mann, vor seinem Tod 1891 unter die Verwaltung eines Vormunds gestellt hat. Dieser steht den journalistischen und schriftstellerischen Ambitionen der Brüder skeptisch gegenüber. So ist für diese die Notwendigkeit, Geld zu verdienen stets Hindernis für die angestrebte literarische Karriere und das freie Autorenleben. Der zielstrebigere Heinrich hat bereits einige literarische Erfolge und ist kurzzeitig Herausgeber der nationalchauvinistischer Monatsschrift „Das zwanzigste Jahrhundert“, für die auch Thomas Beiträge schreibt. Eine Anstellung beim satirischen Magazin Simplicissimus reizt diesen hingegen wenig. Lieber möchte er seinen Italien-Aufenthalt mit Heinrich verlängern.

Venedig, Rom, Neapel und Palestrina

Venedig, Rom, Neapel und Palestrina stehen auf dem Reiseplan. Man versucht Vorschüsse für Novellenbände zu erhalten und Erzählungen zu verkaufen, so recht will das nicht gelingen. Während Heinrich eine Affäre mit einer italienischen Schauspielerin beginnt, trifft Thomas einen faszinierenden 15-Jährigen, dem er hinterherreist und den er obsessiv verfolgt, – und entdeckt die Liebe zu Hunden. Der Grundstein so manches Werks der Brüder scheint hier gelegt worden zu sein. Nicht zuletzt der 1901 erscheinende Roman „Buddenbrooks“.

Spekulationen Thomas sei während des Italienaufenthalts einem Strichjungen begegnet und möglicherweise in ein Verbrechen verwickelt gewesen, webt Matthias Lohre in eine atmosphärisch stimmige Handlung, die an den „Tod in Venedig“ erinnert und auch stark von der schwierigen Beziehung der beiden Brüder bestimmt wird. Thomas bewundert den älteren und erfolgreicheren Heinrich, ist von dessen Lebenswandel aber auch abgestoßen. Heinrich leidet immer noch unter der Abneigung seines Vaters. Ein Verhältnis in Hassliebe und Konkurrenz der so gegensätzlichen, von Lohre einfühlsam und psychologisch interessant dargestellt. Zudem lassen sich viele Anspielungen, Bezüge und indirekte Zitate finden, was Spaß macht. Kurz vor seinem Tod hat Thomas Mann wohl geäußert, er sei bei jener Italienreise dem leibhaftigen Teufel begegnet. Eine Begegnung, die ihn zu seinem „Doktor Faustus“ inspiriert habe und in der Lohres Roman kulminiert. Teufels Bruder ist sicher eine der gelungensten, originellsten und lesenswertesten Neuerscheinungen im Thomas-Mann-Jubiläumsjahr.

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Matthias Lohre - Teufels Bruder.

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Matthias Lohre – Teufels Bruder 
Piper Januar 2025, 544 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, € 25,00

Charline Effah – Die Frauen von Bidi Bidi

Das Camp Bidi Bidi in der Provinz Yumbe im Nordwesten Ugandas gilt als die zweitgrößte Siedlung für Geflüchtete weltweit. Bis zu 270.000 Menschen finden hier Zuflucht, die meisten davon sind seit 2016 vor dem Bürgerkrieg im Südsudan geflohen. Eine erste Station, aber lange noch keine sichere Bleibe, zumal nicht für Frauen und Mädchen. Das macht die in Gabun geborene und nun in Paris lebende Autorin Charline Effah in ihrem Roman Die Frauen von Bidi Bidi deutlich. Weiterlesen „Charline Effah – Die Frauen von Bidi Bidi“

Michèle Yves Pauty – Familienkörper – Kurz vorgestellt

Die Autorin und Fotografin Michèle Yves Pauty beweist in ihrem Debütroman Familienkörper, dass man Familiengeschichte auch ganz anders als gewohnt schreiben kann. In ihrem Text fasst sie die Familie als zusammenhängender Körper. Die Mitglieder sind ineinander verwoben, ob sie wollen oder nicht. Nicht nur durch ihre Beziehungen zueinander, sondern auch durch das, was in den Familien vererbt wird. Vererbt mit Stolz oder Scham, unbewusst oder absichtsvoll, für alle deutlich oder ganz unbemerkt. Das sind Verhaltensweisen, Ansichten, Haltungen, in die machtvoll äußere Umstände wie Herkunft, Klasse, Bildung und Geschlecht hineinspielen, aber auch ganz greifbare körperliche Dinge, wie Aussehen, Körpermerkmale oder auch Krankheiten bzw. Veranlagungen dazu. Weiterlesen „Michèle Yves Pauty – Familienkörper – Kurz vorgestellt“

Simon Stranger – Museum der Mörder und Lebensretter

2019, Norwegen war Gastland der Frankfurter Buchmesse und es erschienen ungewohnt viele norwegische Bücher in deutscher Übersetzung, las ich Vergesst unsere Namen nicht von Simon Stranger. Ich hatte den Autor auf der Messe kurz treffen dürfen und war sehr fasziniert von der persönlichen Geschichte, die er da vorstellte. In Form einer Enzyklopädie präsentierte er die Familiengeschichte seiner Frau Rikke während und kurz nach der deutschen Besatzungszeit 1940-45. Die Familie hat jüdische Wurzeln und musste nach Schweden fliehen, um zu überleben. Nach der Rückkehr lebten sie – zuerst unwissend – in der Folterzentrale eines der übelsten Kollaborateure Norwegens. In seinem neuen Roman Museum der Mörder und Lebensretter erzählt Simon Stranger davon unabhängig ein weiteres Kapitel der düsteren Vergangenheit Norwegens der Besatzungsjahre. Und auch dafür fand er wieder eine familiäre Grundlage.

Bei Recherchearbeiten zu der Familiengeschichte seiner Frau stieß der Autor auf eine ganz unglaubliche Geschichte: Die beiden norwegischen Fluchthelfer, die die Großmutter seiner Frau, Ellen Glott, und ihre Familie 1942 sicher und ohne Lohn über die Grenze nach Schweden brachten (und dies wohl unzählige Male zuvor und danach ebenso), töteten kurz davor ein jüdisches Ehepaar, das sie begleiten sollten, und versenkten ihre Leichen in einem See. Erst Monate später trieben die mit Steinen beschwerten Leichen an die Wasseroberfläche und wurden entdeckt. Auch die Täter wurden identifiziert, verhaftet und angeklagt. Nach dem Krieg wurden die beiden Täter allerdings freigesprochen. Wie konnte es zu diesem Urteil kommen? Und wie dazu, dass aus zigfachen Lebensrettern, Mitgliedern des norwegischen Widerstandes, die oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens arbeiteten, brutale Mörder eines älteren Ehepaars werden konnten?

Ein Museum der Erinnerungen

Simon Stranger baut auch seinen neuen Roman auf eine ganz besondere Weise auf. War es bei Vergesst unsere Namen nicht die enzyklopädische Ordnung der Stichworte von A-Z, bilden die einzelnen Kapitel dieses Mal die Räume eines Museums nach. In ihnen sind Museumsobjekte wie Zeitungsartikel, persönliche Gegenstände, Gerichtsakten, Fotos angeordnet, an denen entlang er die Geschichte der Flucht von Ellen parallel zur Geschichte des Ehepaars Rakel und Jacob Feldmann und ihrer Ermordung erzählt. Wie in einer literarischen Reportage verfolgen wir auch die Spurensuche des Autors, seine Recherchen, seine Zweifel, seine Mutmaßungen. Natürlich kann er nicht wissen, was die Beteiligten damals gedacht, gefühlt, gesagt haben. Er füllt dies mit Fiktion.

Die Geschichte, die er erzählt, ist spannend wie ein Krimi und führt anschaulich die Zerrissenheit Norwegens während der deutschen Besatzung vor Augen. Unter Ministerpräsident Vidkun Quisling von der Nasjonal Samling wurden die (vergleichweise sehr wenigen) norwegischen Juden und Jüdinnen verfolgt, an die Deutschen ausgeliefert und deportiert. Wenn ihnen nicht die Flucht nach Schweden gelang, so wie der Familie von Simon Strangers Ehefrau. Und auch eine passende Anekdote aus seiner eigenen Familie erzählt der Autor. Eine der Quellen, die er für seine Romane studiert hat, das üble Propagandawerk „Der Untermensch“ (Umennesket), wurde von der Druckerei seines Urgroßvaters Sigurd Wahl gedruckt. Nicht zuletzt hinterfragt Stranger sich und seine Nachforschungen immer wieder selbst.

„Wer wäre ich während des Krieges gewesen, der ich als Jugendlicher so aufgeschlossen war, so offen und empfänglich für große Ideen? Hätte ich zu jenen gehört, die sich von den Strömungen dieser Zeit mitreißen ließen?“

Formal, inhaltlich und stilistisch überzeugt Simon Stranger mit seinem Museum der Mörder und Lebensretter, das mit einer Vielzahl von Schwarz-Weiß-Fotos ergänzt wird, und erhält von mir eine klare Leseempfehlung.

 

Beitragsbild: Syltefjord CC0 via digitaltmuseum.org

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Simon Stranger - Museum der Mörder und Lebensretter.

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Simon Stranger – Museum der Mörder und Lebensretter
Übersetzt von Thorsten Alms
Hardcover, 368 Seiten, € 22,00

 

 

 

 

Hannes Köhler – Zehn Bilder einer Liebe

Einen zeitgemäßen, authentischen Liebesroman, ohne aufgeblasene Gefühle, langweiliges Gefühlswirrwarr oder Überproblematisierungen und ohne Kitsch und misslungene Sexszenen – gibt es das überhaupt? Kaum, dachte ich und meide deshalb dieses Genre mittlerweile weitgehend. Hannes Köhler hat mit Zehn Bilder einer Liebe tatsächlich die Quadratur des Kreises geschafft und einen Roman über eine Liebe geschrieben, den ich nicht nur äußerst gern gelesen habe, sondern der mir auch im Nachgang noch sehr nah ist. Weiterlesen „Hannes Köhler – Zehn Bilder einer Liebe“

Alan Murrin – Coast Road

1994, ein kleine Gemeinde im irischen County Donegal, im Norden des Landes. Colette Crowley kehrt nach einer gescheiterten Flucht aus der provinziellen Enge und Kontrolle zurück nach Ardglas, in dem sie Mann und drei Söhne zurückgelassen hatte. Mit einem verheirateten Mann lebte sie eine Zeitlang in Dublin zusammen und versuchte als Dichterin und Schriftstellerin Fuß zu fassen. Die Beziehung zerbrach und der berufliche Erfolg blieb aus. Alan Murrin erzählt in seinem sehr gelungenen Debütroman Coast Road, für den er bei den Irish Book Awards 2024 als „Newcomer of the year“ ausgezeichnet wurde, wie schwer Colette diese Rückkehr nicht nur von ihrem Ex-Mann Shaun gemacht wird. Weiterlesen „Alan Murrin – Coast Road“

Jörg Hartmann – Der Lärm des Lebens – Kurz vorgestellt

Nicht schon wieder ein Roman von einem Fußballer oder Schauspieler könnte man denken. Warum bleiben die nicht bei dem was sie wirklich können, könnte man denken. Aber abgesehen davon, dass Letztere meistens zumindest gut mit Sprache umgehen können, ist es wirklich erstaunlich, wieviele richtig tolle – meist autofiktionale – Bücher von Schauspielern erscheinen. Joachim Meyerhoff, Edgar Selge, Matthias Brandt und jetzt auch Jörg Hartmann, den man vom Dortmunder Tatort als grantigen Kommissar Faber kennt, mit seinem Roman Der Lärm des Lebens. Weiterlesen „Jörg Hartmann – Der Lärm des Lebens – Kurz vorgestellt“

Martin Mittelmeier – Heimweh im Paradies – Kurz vorgestellt

Einen ähnlichen Ansatz für eine erzählende Biografie wie Volker Weidermann mit Mann vom Meer und von diversen anderen Autoren wie beispielsweise Florian Illies oder Uwe Wittstock verfolgt auch der Literturwissenschaftler Martin Mittelmeier mit seinem Buch zum Thomas Mann-Jubiläumsjahr Heimweh im Paradies: anhand von locker zusammengefügten Episoden aus derem Leben, literarisch erzählt, umfassend recherchiert und in kleinen intimen Einblicken leicht fiktionalisiert wird ein thematisch und/oder zeitlich begrenztes Bild einer Person (oder einer Zeit) präsentiert.

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Volker Weidermann – Mann vom Meer

Am 6. Juni 2025 wird der 150. Geburtstag Thomas Manns gefeiert. Zusammen mit der 70. Wiederkehr seines Todestags im August wird das Jahr damit zum Thomas-Mann-Jahr – fleißig beworben und medienwirksam umgesetzt. Zumindest bei mir hat das verfangen und ich habe begonnen, mich mit dem Autor, der mich mit seinen Buddenbrooks vor vielen Jahren begeistert, danach aber mit seinem Zauberberg einigermaßen ratlos (und ehrlicherweise gelangweilt) zurückgelassen hat, erneut zu beschäftigen. Ich begann mit Deutsche Hörer!, den Reden, die Mann zwischen 1942 und 1945 an ein deutsches Publikum via BBC gerichtet hat. Und war überrascht und sehr angetan davon, wie politisch und leidenschaftlich-polemisch der von mir eher als steif und kühl empfundene Autor doch war. Auch das zweite Buch, das ich mir in diesem Kontext vorgenommen habe, Mann vom Meer Thomas Mann und die Liebe seines Lebens von Volker Weidermann zeichnete ein vom Üblichen abweichendes Bild und hat mich nicht nur gut unterhalten, sondern auch sehr interessante Einblicke geliefert. Weiterlesen „Volker Weidermann – Mann vom Meer“