Javier Zamora – Solito

Es ist eine erschütternde Geschichte, die leider so oder ähnlich tagtäglich irgendwo auf der Welt passiert – das UNHCR spricht aktuell von fast 120 Millionen Vertriebenen weltweit, 47 Millionen davon sind Kinder, viele davon sogenannte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Aber ist es auch „Eine wahre Geschichte“, wie der Verlag auf dem Buchcover verkündet, die der 1990 in El Salvador geborene und nun in den USA lebende Lyriker Javier Zamora in seinem ersten Prosawerk Solito erzählt? In der Kritik wurde das schon bemängelt, denn wir „wahr“ kann eine Geschichte sein, die auf über 20 Jahre zurückliegenden Erlebnissen eines Kindes beruhen? Bitteren, bestürzenden, traumatisierenden Erlebnissen, die Zamora erst nach einer Psychotherapie zu Papier bringen konnte. Ich denke, dieser Einwand ist ein wenig müßig. Im Original wird Solito ein „memoir“ genannt. Eine zwischen Autobiografie und Autofiktion changierende Gattungsbezeichnung. Und jeder weiß ja, wie Erinnerungen beim Erzählen und Rekapitulieren immer wieder umgeformt werden. Und deshalb nicht weniger wahr werden. Weiterlesen „Javier Zamora – Solito“

Saša Stanišić – Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne

Wenn man nicht wüsste, was für ein verschmitzter, kluger Autor Saša Stanišić ist, könnte man sich fast ein wenig ärgern, über den unangenehm langen, prätentiösen Titel – Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. Marketingtechnisch war er wohl ein Erfolg, wurde doch schon bald kundgetan „längster Buchtitel der Literaturgeschichte“ und wurden doch gleich etliche Challenges in den sozialen Medien gestartet, „Wer kann den Titel auswendig ohne Fehler aufsagen?“ Aber da Saša Stanišić eben ein verschmitzter, kluger und verspielter Autor ist, könnte es gut sein, dass er auch darüber grinst und sich freut. Sein Buch aber hat diesen aufsehenerregenden Titel nicht nötig – es ist bereits inhaltlich und sprachlich grandios. Weiterlesen „Saša Stanišić – Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“

Sara Klatt – Das Land, das ich dir zeigen will

Sara Klatt, die Autorin von Das Land, das ich dir zeigen will, ist 1990 in Hamburg geboren und dort aufgewachsen. Ihr Großvater wanderte nach dem Krieg von Berlin nach Israel aus, wurde dort aber nicht heimisch. Schon früh erzählte er seiner Enkelin von dort. Sie stellt ein Motto aus der Bibel ihrem Roman voran, der unverhohlen Autobiografisches erzählt.

„Und der Herr sprach zu Abraham:
Gehe aus deinem Vaterland und von deiner
Freundschaft und aus deines Vaters Hause
in ein Land, das ich dir zeigen will.“

Weiterlesen „Sara Klatt – Das Land, das ich dir zeigen will“

Jhumpa Lahiri – Das Wiedersehen

Jhumpa Lahiri wurde 1967 als Tochter bengalischer Eltern in London geboren und wuchs in Rhode Island auf. Bereits ihr literarisches Debüt, die Kurzgeschichtensammlung Melancholie der Ankunft, wurde ein großer Erfolg und wurde 2000 mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet. Lahiri lebte mit ihrer Familie einige Zeit in Rom und bezeichnet das Italienische als ihre Wahlsprache, in der sie bereits den letzten Roman Wo ich mich finde verfasst hat. Nun hat Jhumpa Lahiri auch die Römischen Geschichten in Das Wiedersehen auf Italienisch geschrieben, die von Julika Brandestini ins Deutsche übersetzt wurden. Weiterlesen „Jhumpa Lahiri – Das Wiedersehen“

Lektüre Juli 2024

Unverändert viel gelesen, aber nahezu nichts besprochen: so lautet (leider) das Fazit zu meiner Lektüre im Juli 2024.

Viel Gartenzeit, Arbeitszeit, Abifeiern des Sohnes und Vor- und Nachbereitung des Literaricum Lech haben dazu geführt, dass ich erstmals in einen Lektüre-Rückblick starte, ohne vorher eines der Bücher besprochen zu haben. Doch Stopp – eine Ausnahme gibt es. Ein Buch, das ich zwar auf meinem Monatslesebild glatt vergessen habe, das aber keinesfalls vergessen gehört und zu einem meiner liebsten bei der Lektüre im Juli 2024 gehörte: Abdulrazak Gurnahs Das versteinerte Herz. Mein Monatsliebling war Das Land, das ich dir zeigen will von Sara Klatt. Eine Autorin, die mir bisher völlig unbekannt war und die mich mit ihrer Rückbesinnung auf Großvater und Eltern und ihre Aufenthalte in Israel sehr positiv überrascht und schlichtweg begeistert hat. Große Empfehlung.

Aber es gab noch mehr Empfehlenswertes:

Weiterlesen „Lektüre Juli 2024“

Literaricum Lech – Lolita

In der vergangenen Woche (18. bis 21. Juli 2024) fand in Lech am Arlberg die vierte Ausgabe des Literaricum Lech mit dem Roman Lolita statt. In der herrlichen Landschaft der Vorarlberger Hochalpen treffen sich auf bis über 1750 Metern Höhe Literat:innen, Kritiker:innen und interessiertes Lesepublikum um sich wie jedes Jahr einem Klassiker der Weltliteratur an drei Festivaltagen aus verschiedenen Perspektiven zu nähern. Nach eigenem Motto wird Bildung und Unterhaltung auf hohem Niveau geboten. Das kann ich uneingeschränkt bestätigen. Eingeladen von Lech Zürs Torismus konnte ich drei Tage lang interessante und hochkarätige Veranstaltungen rund um Vladimir Nabokovs Lolita besuchen, mit den Autor:innen und Pressekolleg:innen sprechen und tolle Leute kennenlernen. Das Wetter spielte auch mit, ein paar Wolken, ein paar Tropfen Regen, ansonsten strahlte die Sonne und verbreitete richtiges Feriengefühl. Weiterlesen „Literaricum Lech – Lolita“

Lolita von Vladimir Nabokov beim Literaricum Lech 2024 – Eröffnung

Der Juli steht im weltbekannten Wintersportort Lech im österreichischen Vorarlberg im Zeichen der Literatur. Seit 2021 findet dort das Literaricum Lech statt. Von Donnerstag bis Sonntag dreht sich dann alles um einen Klassiker, der vom Team um Kuratorin Nicola Steiner mit Raoul Schrott und Michael Köhlmeier ausgewählt wird. Dieser wird dann in vielfältigen Veranstaltungen beleuchtet und auf seine Aktualität befragt. Dazu werden jedes Jahr namhafte oder auch junge Autor:innen mit ihren Büchern eingeladen. 2024 drehte sich beim Literaricum Lech alles um Lolita von Vladimir Nabokov.

Weiterlesen „Lolita von Vladimir Nabokov beim Literaricum Lech 2024 – Eröffnung“

Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz

Wenige Literaturnobelpreisträger konnten mich bisher so begeistern wie Abdulrazak Gurnah, dem 2021 der Preis verliehen wurde und den hierzulande bis dahin kaum jemand kannte. Alle Übersetzungen waren zum Zeitpunkt der Verkündung nur noch antiquarisch zu bekommen. Sehr schnell hat sich allerdings der Penguin Verlag verdient gemacht, alle Romane von Abdulrazak Gurnah auch in Deutschland verfügbar zu machen und veröffentlicht diese seitdem nach und nach, so nun auch den 2017 im Original erschienenen Roman Gravel Heart, in der Übersetzung Das versteinerte Herz. Weiterlesen „Abdulrazak Gurnah – Das versteinerte Herz“

Maria Leitner – Hotel Amerika

In der Buchreihe „Reclam´s Klassikerinnen ist in diesem Jahr ein Buch (wieder)erschienen, dass sehr passend zu meiner letzten Lektüre, Uwe Wittstocks Marseille 1940 ist. Die Autorin von Hotel Amerika, die 1892 geborene, deutschsprachige Ungarin Maria Leitner, musste selbst als Jüdin Deutschland und 1940 dann auch das besetzte Paris verlassen. Ihr gelang zwar die Flucht aus dem Internierungslager Gurs in Südfrankreich, am 14. März 1942 starb sie aber in Marseille in der Psychiatrie an Hunger. Ihr war die Ausreise trotz Unterstützung von Varian Fry nicht gelungen. Die USA gewährten ihr als erklärter „Linken“ (ihre Brüder waren 1919 Mitglieder der kurzlebigen ungarischen Räterepublik) kein Visum, obwohl sie auf der Liste des Emergency Rescue Committees stand. Weiterlesen „Maria Leitner – Hotel Amerika“

Lolita beim Literaricum Lech 2024

Einer der umstrittensten Romane des 20. Jahrhunderts steht im Mittelpunkt des vierten Literaricum Lech 2024 – Lolita von Vladimir Nabokov

Am 18. Juli 2024 beginnt das vierte Literaricum in Lech am Arlberg – dieses Jahr mit Lolita im Mittelpunkt.
Ein feines, kleines Literaturfestival inmitten herrlicher Berglandschaft, das seit 2021 jedes Jahr einen Klassiker der Weltliteratur in den Mittelpunkt stellt. Der Simplicius Simplicissimus, Bartleby, der Schreiber und Stolz und Vorurteil waren bereits Thema, jeweils umrahmt von einem tollen Podiumsprogramm mit bekannten Autor:innen und ihren aktuellen Büchern, mit Menschen aus der Literaturkritik und spannenden Themen.
Kuratiert wird das Programm von der wunderbaren Nicola Steiner und ich durfte die letzten beiden Jahre bereits dabeisein. Die Mischung aus Literatur, Kultur und herrlicher Bergwelt, der nahe Kontakt mit allen Beteiligten und das Wiedersehen mit mittlerweile liebgewonnenen Lesebegeisterten machen für mich das Literaricum zu einem Jahreshighlight, an das ich immer gerne zurückdenke. Deshalb hier ein kleiner Rückblick auf die Jahre 2022 und 2023. Weiterlesen „Lolita beim Literaricum Lech 2024“