David Foenkinos wählt einen ganz persönlichen Zugang zum Leben der 1943 in Auschwitz ermordeten jüdischen Malerin Charlotte Salomon.
Durch eine Ausstellung deren Werks „Leben? Oder Theater?“, die er zufällig besucht, ist er tief beeindruckt, ja geradezu besessen nicht nur vom künstlerischen Schaffen, sondern auch vom tragischen Leben Salomons.
1917 in Berlin in großbürgerlichen Verhältnissen geboren, steht ihr Leben unter keinem sehr glücklichen Stern. Als sie acht Jahre alt ist, bringt sich ihre Mutter um. Eine Tatsache, die der kleinen Tochter nicht verraten wird, man spricht von einer schweren Grippe. Ist der Selbstmord in dieser Familie doch wie ein böser Fluch. Bereits die Schwester, der Onkel, die Tante haben ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt und sollten nicht die Letzten bleiben. Eine Lüge, um die Tochter zu schützen also.
Zunächst wendet sich auch alles zum Guten. Der Vater findet in der berühmten Sängerin Paula eine neue Frau und diese ist Charlotte sehr zugetan. Auch diese liebt und bewundert sie. In deren Gesangslehrer Alfred Wolfsohn findet sie als junge Frau eine erste, ein wenig einseitige Liebe.
Doch die Zeiten sind gegen sie. Bereits sehr früh emigrieren die Großeltern nach Südfrankreich. Doch Albert Salomon und seine Frau Paula wollen das Land trotz zunehmender Repressalien und Bedrohungen nicht verlassen. Es ist ihre Heimat, der Spuk wird schnell vergehen. Wir kennen das. Billy Wilder soll gesagt haben: »Die Optimisten kamen nach Auschwitz, die Pessimisten nach Beverly Hills.«
Charlotte gelingt es wegen ihrer Begabung und dank Fürsprechern noch 1935 in die Kunstakademie aufgenommen zu werden. Öffentliche Anerkennung bleibt ihr aber versagt.
Nach der Verhaftung des Vaters in Folge der Reichspogromnacht 1938 und seiner Internierung in Sachsenhausen, der er nur durch intensive Bittgesuche seiner Frau, die auch in der neuen Regierung noch ihre Bewunderer hat, entgehen kann, wird Charlotte, die noch minderjährig ist und keinen Pass benötigt, zu den Eltern nach Südfrankreich geschickt. Hier verlebt sie kurz eine schöne Zeit, bevor das Schicksal erneut zuschlägt. Kriegsbeginn, Selbstmord der Großmutter, kurzzeitige Inhaftierung mit dem Großvater im französischen Internierungslager Gurs, Besatzung der bisher Freien Zone durch Deutschland und Italien, Tod des Großvaters. Noch einmal tut sich ein kleines Fenster zum Glück auf, als Charlotte in einem wahren Schaffensrausch ihr einzigartiges Werk „Leben? Oder Theater?“ schafft – fast 1000 Gouachen, ergänzt mit Texten und Musikanweisungen, „Ein Singespiel“, das ihr ganzes Leben nacherzählt, und 1943 den österreichischen Flüchtling Alexander Nagler heiratet und von ihm schwanger wird. Doch sie wird denunziert und gleich nach ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet. Im fünften Monat schwanger und gerade einmal 26 Jahre alt.
Soweit die gut dokumentierten Fakten über ihr Leben.
Doch wie geht David Foenkinos mit diesem Material um?
Er ist von Charlotte Salomons Schicksal tief berührt, von ihrer Person und ihrem Schaffen nahezu besessen. „Charlotte, mon obsession.“ sagt er einmal selbst. Ein sachlich biografischer Ansatz ist von daher ausgeschlossen. Aber auch ein fiktionalisierter Roman scheint ihm unangemessen.
Er schafft daher eine ganz eigene Form. Er erzählt in Hauptsätzen, gibt ihnen je eine Textzeile und setzt das Ganze wie eine Art Prosagedicht.
Eine zunächst recht ungewohnte Erzählweise, der leicht etwas Maniriertes anhaften könnte.
Zugleich geht er ganz nahe an seine Protagonistin heran, schlüpft in sie hinein, okkupiert sie geradezu. Das hat etwas Heikles und hin und wieder wird es auch zu viel und grenzt ein wenig an Anmaßung. Sätze wie „Charlotte seufzt.“ oder auch Schilderungen ihrer Liebesbeziehungen oder letztlich auch der Gang in die Gaskammern Ausschwitz.
Über weite Teile funktioniert das Ganze aber, sowohl bezüglich der Erzählperspektive als auch des Stils. Auch dass David Foenkinos den Leser am Recherche- und Schreibprozess teilhaben lässt, ist interessant.
Charlotte Salomons Leben berührt. Das Buch macht neugierig auf diese fast unbekannte Künstlerin und ihr spannendes Werk. Ich habe sehr viel nachgeschlagen und mich in „Leben? Oder Theater?“ vertieft, dass komplett online einzusehen ist. Und damit ist sie ein Stückweit dem Vergessen entrissen. Kein kleines Verdienst dieses Romans.
David Foenkinos – Charlotte
Aus dem Französischen von Christian Kolb
Deutsche Verlagsanstalt August 2015, gebunden, 240 Seiten, € 17,99
Schön, dass du dieses Buch hier vorgestellt hast. 🙂 Ich möchte es in diesem Jahr auch unbedingt noch lesen.
PS: Du hast übrigens einen ausgezeichneten Buchgeschmack! 🙂
Dankeschön!