Ein klassischer Kriminalroman ist „Der Fall Bramard“ nicht. Obwohl er alle Ingredienzien dafür besitzt: eine Jahre zurückliegende Serie ritualisierter Frauenmorde, der am Ende auch die Frau des ermittelnden Kommissars zum Opfer fiel; dieser Kommissar, ein brummiger, zurückgezogen lebender Eigenbrötler, der daraufhin den Dienst quittierte und fortan stundenweise als Lehrer arbeitet und die restliche Zeit auf einsamen Bergtouren verbringt; mysteriöse Briefe, die den Leonard Cohen „Song of Issac“ zitieren und den Kommissar seit damals aus der ganzen Welt erreichen; ein knurriger Polizeibeamter und eine junge Kollegin mit ausgeprägtem Computer-Know-How; Verstrickungen in höchste Kreise und zu Edelbordellen, in denen die hochgestellten Herren ihrer Neigung zu sehr jungen Damen nachgehen können.
Nach Jahren erhält nun Corso Bramard wieder einen dieser Briefe, diesmal mit der abschließenden Songzeile und einem Haar, das eindeutig dem damals ersten und einzig überlebenden Opfer des Serienmörders zuzuorden ist. Leider lebt die Frau seit der Tat in völliger geistiger Umnachtung und kann nichts zur Aufklärung beitragen. Dennoch ist Bramard überzeugt, dass sie der Schlüssel zur Identifizierung des Täters ist. Zumal sie seit Jahren immer wieder geheimnisvollen Besuch erhält. Bramard rollt den Fall zusammen mit seinem Nachfolger im Polizeidienst wieder auf.
Wie in aktuellen Thrillern mittlerweile üblich, erhält neben den Ermittlern auch der Täter eine eigene Perspektive. Man ahnt schon sehr früh, dass er die Morde begangen hat und dass ein ästhetisches Motiv beteiligt war. Das schmälert die Spannung bis zum Ende aber nicht.
Trotzdem ist die klassische Überführung des Mörders gar nicht das zentrale Moment dieses Romans. Sie geschieht nahezu nebenbei.
Viel wichtiger sind die seelischen Abgründe, in die Corso Bramard durch den Mord an seiner Frau und das Verschwinden der sie begleitenden Tochter hinabgestiegen ist. Viel interessanter sind die Einblicke in die italienische Gesellschaft und die raue piemontesische Bergwelt nahe Turin.
Sensible psychologische Schilderungen wechseln ab mit poetischen Landschaftsbeschreibungen. Und das alles in einer wunderbaren, schlicht schönen Sprache, die in ihrer Kargheit sowohl der Alpenwelt als auch der schweigsamen, schwer erschütterten Gestalt Bramards entspricht und diesen „Kriminalroman“ zu einem literarischen Genuss macht.
Davide Longo – Der Fall Bramard
Rowohlt Verlag April 2015, gebunden, 320 Seiten, 19,95