Jonathan Franzen – Unschuld

Jonathan Franzen - UnschuldEines der für 2015 am heißesten ersehnten Bücher wurde meine erste Lektüre im Jahr 2016 und wahrscheinlich bereits die größte Enttäuschung dieses Lesejahres.
Dieses Buch zu mögen wurde dadurch nicht leichter, dass keine der Personen, und es gibt derer nun wirklich viele, auch nur ansatzweise sympathisch ist.
Auch trägt es für mich nicht zum Lesevergnügen bei, wenn ohne Notwendigkeit für Handlung oder Textaussage weite Teile der Ausübung unterschiedlichster, meist unschöner Sexualpraktiken gewidmet sind. Ohne Staistik geführt zu haben, zählen Schwanz, Ständer, Muschi oder Möse sicher zu den am meisten verwendeten Wörtern im Buch.

Diese Erschwernisse müssen aber nicht unbedingt dazu führen, dass ich ein Buch nicht an mich heran lasse. Stimmen Handlung oder Botschaft, oder vermag es auch nur, gut zu unterhalten, sind sie zumeist vergessen.

Schauen wir uns zunächst einmal die Handlung an. Um was geht es? Ja, um was geht es eigentlich? Es sind derart viele, zunächst disparate Handlungsstränge vorhanden, dass sich erst recht spät eine Art „Haupthandlung“ herausschält. Auch das nicht unbedingt ein Manko, wären die einzelnen Fäden für sich stimmig und dann konsequent zusammengeführt.
Hauptprotagonistin, nach der das Buch im Original benannt wurde, ist Purity Tyler, genannt Pip. Pip – da klingelt doch was. Genau, der Autor liebt es, literaturhistorische Verweise zu machen. Hier ist es der dickensche Waisenjunge Pip, später einmal der mephistophelische Charakter aus Goethes Faust.
Meiner Meinung nach allesamt eher plump und die Bildung des Autors eitel herauskehrend – aber vielleicht ist da der USamerikanische Leser leichter zu beeindrucken.

Pip also. Pip ist die Tochter einer völlig überspannten Milliardärserbin, die in Thoreauscher Manier in einer einsamen Waldhütte haust, während Pip auf dem Schuldenberg ihres Studienkredits sitzt, in einer heruntergekommenen WG in einer besetzten Villa mit reichlich schrägen Typen haust und einen ätzenden, gehassten Callcenterjob ausübt.
Ihren Vater hat sie nie kennengelernt und wer es ist, verheimlicht die Mutter beharrlich. Pip macht sich nun auf die Suche nach ihm, in der Hoffnung, er könnte ihre Schulden übernehmen.

Die Suche erfolgt – wie könnte es heute anders sein – übers Internet. Eine Bekannte, die Deutsche Annegret, vermittelt Pip ein Praktikum beim Sunlight Project, einer an Wikileaks angelehnten Whistleblowercommunity in Bolivien, geleitet von dem Deutschen, Ex-DDR-Dissidenten Andreas Wolf.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind da ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Franzen baut zwar auch die realen Figuren Assange, Snowden usw. ein, damit gar nicht der Verdacht aufkommt, er könne einen von ihnen hier fiktionalisieren. Trotzdem bekommt die Sache einen gewissen üblen Beigeschmack.
Andreas Wolf ist nämlich der oben erwähnte mephistophelische Charakter. Auch er natürlich aus einer hochgradig dysfunktionalen Familie – Familien oder Beziehungen, die gelingen, scheint es bei Franzen einfach nicht zu geben -, stammend, Sohn eines hohen Parteifunktionärs und einer – upps – völlig überspannten Mutter, zu der er ein Leben lang eine merkwürdige Hassliebe pflegt. Zudem ist er noch mit einem absolut abgedrehten leiblichen Vater gesegnet.

Schon zu DDR-Zeiten pflegte er als Jugendbetreuer in der Kirche reichlich sexuelle Kontakte zu Minderjährigen und auch heute treibt er es mit den vielen Praktikantinnen des Sunlight Projects recht ausgiebig. Aber auch die „reine Liebe“ gibt es in Andreas Leben. Nämlich die zur 15jährigen, vom Stiefvater, einem Stasibeamten (!) missbrauchten Annegret (!).
Und hier laufen die beiden Erzählstränge Andreas in der DDR, der „Republik des schlechten Geschmacks“, und Pip in den USA zusammen. Andreas benutzt Pip nämlich für eigene dunkle Machenschaften, die sich um eine alte Schuld (einst ermordete er mit Annegret zusammen deren Stiefvater-Peiniger) drehen.
Mal wieder spielt Sex eine Rolle, ferner der Antagonismus Journalismus-Internet, Sex, Vegetarismus, Sex, scheiternde Ehen, Wahrheit, Moral und natürlich Sex.

Wer jetzt noch der Meinung ist, das das eine spannende, glaubwürdige Handlung sein könnte, den stört sicher auch nicht, dass nach etlichen haarsträubenden Volten alles wieder zu einer Art – natürlich dysfunktionalen – Familienroman mutiert und Franzen vorher noch so eine verquere These raushaut wie „Ersetzte man Sozialismus durch Netzwerke, hatte man das Internet.“
Man mag dem Internet oder auch den sozialen Netzwerken noch so kritisch gegenüber stehen, das ist dann doch des Guten zuviel.
Zumal Vieles im Roman mit einer deutlicheren Prise Ironie oder Humor hätten durchgehen können.
Davon konnte ich aber leider kaum etwas entdecken.
Auch die von Franzen sonst so souverän beherrschte Figurenzeichnung ging hier in ermüdendem Überpsychologisieren fast völlig verloren. Wie Schachfiguren werden die Protagonisten hin und her geschoben und bleiben der Leserin gänzlich gleichgültig.

Wenn ich nun meine Rezension so lese, staune ich über die drei Sterne, die ich dennoch vergeben habe.
Nun ja, der alte Franzen blitzt halt schon immer wieder mal durch und es gelingt ihm tatsächlich auch, diese krude, überbordende Mischung bis zum Schluss zusammenzuhalten.
Aber enttäuschte Liebe bringt nun mal besonders auf.
Vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal wieder mit mir und Jonathan Franzen. Ganz aufgeben mag ich ihn noch nicht.

Jonathan Franzen – Unschuld

übersetzt von: Bettina Abarbanell; Eike Schönfeld

Rowohlt Verlag September 2015, gebunden, 832 Seiten, € 26,95

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