Jan Böttcher – Y

Jan Böttcher YY lautet der ebenso kurze wie rätselhafte Titel von Jan Böttchers neuem Roman.
Ein Titel, zu dem der Text selbst die schlüssel liefert. Da ist zum Einen die traditionelle albanische Hütte der Schafhirten. Ein Arm zum Hineinleiten der Schafe, die im Stamm festgehalten und gemolken werden, ein Arm zum Hinausleiten. Eine Hütte für einen Sommer, ein Provisorium so wie die Situation im Kosovo nach dem Krieg Ende der 90er Jahre, seine Architektur, die keine Baugenehmigungen zu kennen scheint, ebenso wie der mühevolle Weg zu einer funktionierenden Demokratie und dem Anschluss an den Rest Europas.Die Künstlerkreise, in denen sich Arjeta, die Hauptprotagonistin, bewegt, scheinen einen Schritt weiter zu sein als der Rest der Gesellschaft. „Provisorium“ heißt auch das aktuelle Projekt der Aktionskünstlerin Arjeta, mit der sie sowohl gegen illegale Abholzung als auch gegen die Sinnlosigkeit von Grenzen und Abgrenzung allgemein protestieren will.
Den zweiten Hinweis auf den Titel Y gibt der Erzähler selbst: Es ist die einfachste Form eines Familienstammbaums.
„…wir waren die armdicken Äste, die sich streckten und nach Hilfe ruderten , die alles aus der Luft griffen, was sich greifen ließ und es dann in den Stamm ihres einzigen Kindes hinableiteten, um ihm bei der Verwurzelung zu helfen.“
Familienbeziehungen sind ein zentrales Thema, neben den Verwüstungen, die der Kosovokrieg in Land und Menschen hinterlassen hat.
Es ist der Ich-Erzähler, Schriftsteller und Vater des 14jährigen Benji, der durch das Verschwinden des besten Freundes seines Sohnes, des albanisch stämmigen Leka in dessen Familiengeschichte hineingezogen wird. Dessen Vater, der Computerspielentwickler Jakob Schütte, war ein alter Schulfreund von Arjeta, teilte mit ihr das Fremdsein inmitten der Klassenkameraden, hat Jahre später eine Liebesbeziehung mit ihr, die scheitert als sie mit ihrer Familie während des Kriegs zurückkehrt – die Brüder wollen für ihr Vaterland kämpfen. Zu diesem Zeitpunkt ist Arjeta schon mit Leka schwanger, Jakob reist ihr hinterher, aber die Beziehung ist bereits zerbrochen, so sehr Jakob darunter auch leidet. Wen die Schuld daran trifft, wie es dazu kam – da der Erzähler immer nur das ihm Berichtete wiedergeben kann, bleibt dies ungewiss.
In dieser Erzählposition des Unbeteiligten Dritten, in der der erste Teil der Geschichte, die Kindheits- und Liebesgeschichte Jakobs und Arjetas erzählt wird, liegt auch ein Reiz des Romans. Die Unsicherheit von Erinnerungen, von Erzähltem wird thematisiert.
Nach dem Verschwinden Lekas nach Pristina ist Benji so verstört, dass der Erzähler mit ihm zusammen in den Kosovo fährt, für ihn auch eine Gelegenheit, die Vater-Sohn-Beziehung zu stärken. Denn die gestörte Beziehung Jakobs zu seinem Sohn veranlasst ihn, an die eigene Kindheit zu denken, an seine eher schwierige Beziehung zu den Eltern. Leka erinnert ihn daran, dass er es als Jugendlicher nie geschafft hat, seine Eltern zu verlassen, Jakob daran, dass er selbst einmal, wenn auch nur für wenige Wochen seine Frau und den neugeborenen Sohn verlassen hat. Vielleicht als Ausbruch aus dem allzu Vertrauten. Jetzt meint er zu wissen „Es gibt nämlich gar kein Defizit an Fremde…Weil Fremde immer schon da ist. Sie beruht nicht darauf, von wo die Verwandten migriert sind. Sie ist kein fremdsprachiger Akzent und kein unbekanntes Volkslied.“ Sie steht zwischen den Menschen, auch zwischen denen, die sich eigentlich ganz nah sein sollten. „Arjetas Provisorium beherbergte die Fremde. Alles addierte sich zu Europa.“
So bekommt das Ganze einen politischen Aspekt, beklagt, dass „Kosova 1999 dagegen realpolitisch nicht mehr als ein Militärstützpunkt gewesen (war), ein Stück Geopolitik, es hatte eine Lage –  und sonst nichts zu bieten, was der internationalen Gemeinschaft zum Vorteil gereichen konnte“. Ein Grund vielleicht, warum es auch 2015 noch eine Art Provisorium darstellt. „Vom Balkan lässt sich nichts anderes exportieren als der Krieg.“ bekommt Jakob Schütte demnach auch gesagt, als er einem Finanzier seine Idee unterbreitet, den Kosovo zum Schauplatz eines neuen Computerspiels zu machen. Es wird tatsächlich ein Kriegsspiel, mit dem Schütte recht skrupellos seine Kosovo-Erfahrung genauso verarbeitet wie sein schwieriges Verhältnis zu Arjetas Familie. Und dessen Beschreibung im Roman recht viel Raum eingeräumt wird. Auch ein Versuch der Väter-Generation, mit Benji und Leka in Kontakt zu bleiben.
Es sind eine ganze Reihe von sehr interessanten Themen, die Jan Böttcher anschneidet. Meiner Ansicht nach ist es ihm aber leider nicht gelungen, daraus einen konsistenten, packenden Roman zu konstruieren. Lange Zeit ist nicht einmal klar, was überhaupt erzählt werden soll. Sprache und Aufbau sind zu theoretisch, um Empathie oder auch nur näheres Interesse an den Figuren zu wecken. Das ist sehr schade, denn der Kosovokrieg und das Schicksal des Landes kommen in der heutigen Literatur viel zu selten vor. Auch der Computerspiel-Ansatz, der Versuch das Fremde zu fassen, ist interessant. Die Umsetzung aber enttäuscht.

Jan Böttcher – Y

Aufbau Verlag März 2016, Gebunden, 255 Seiten, 19,95 €

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