Anthony Doerr – Memory Wall
Memory wall ist eine Novelle, die im Original als Teil einer Erzählungssammlung erschienen ist. Alle Geschichten, so auch diese hier, handeln vom Erinnern oder mehr noch vom Vergessen.
„Es ist so selten, denkt Luvo, dass etwas erhalten bleibt, dass es nicht ausgelöscht, zerschlagen, verwandelt wird.“
In Anthony Doerrs Erzählung hat die Wissenschaft eine Methode gefunden, die Erinnerungen eines Menschen auf kleinen Kassetten zu speichern. Es ist eine Operation dafür nötig, drei kleine Ports werden in den Schädel gebohrt. Über diese kann der Patient dann nach Bedarf seine eigenen Erinnerungen immer wieder „einspielen“, sollten sie mal verloren gehen. Science-fiction, so unauffällig und unspektakulär in die Geschichte eingeflochten, dass man kaum zusammenzuckt.
Alma ist eine vermögende Weiße, in einem schönen sauberen Vorort von Kapstadt lebend. Harold, ihr Mann, ist seit vier Jahren tot, sie selbst kämpft immer erfolgloser gegen das Vergessen. Pheko, der schwarze Hausangestellte, kümmert sich rührend um Mrs. Alma, kocht, versieht den Haushalt, fährt zum Arzt und zur Gedächtnisklinik und wenn es ihr schlecht geht, versorgt er sie mit ihren alten Erinnerungen, die sie zusammen mit alten Fotos und Notizen sorgfältig an ihrer Memory Wall aufbewahrt. Aber den zunehmenden Verfall der demenzkranken Frau können auch sie nicht aufhalten.
Nachts schleichen sich Diebe ins Haus, auf der Suche nach der einen Erinnerung, die sich zu viel Geld machen lassen könnte. Ein elternloser, streunender Junge wurde dafür operiert, mit Ports versehen, er kann Mrs. Almas Erinnerungen lesen.
Was sich hier so phantastisch anhört, wird von Anthony Doerr ganz selbstverständlich in ein völlig realistisches Setting eingebunden. Es ist die Welt der großen Gegensätze in Südafrika. Die reiche einsame Frau in ihrer Villa, der alleinerziehende schwarze Angestellte aus den Townships, das völlig entrechtete Straßenkind, das von skrupellosen Verbrechern nur benutzt wird. Eine gehörige Portion Gesellschaftskritik steckt auch in „Memory wall“.
Zentral ist aber das Thema des Vergessens, der Vergänglichkeit der Erinnerungen und damit der Existenz an sich.
„Dr. Amnestys Kassetten, das South African Museum, Harolds Fossilien, Chefe Carpenters Sammlung, Almas Gedächtniswand – waren das nicht alles Versuche, der Vernichtung zu trotzen? Was sind Erinnerungen überhaupt? Wie können sie so zerbrechlich und vergänglich sein?“
Bei aller Realitätsnähe und trotz Doerrs klarer Sprache bekommt die Novelle zunehmend etwas märchenhaftes, wird poetischer und endet schließlich bittersüß. Das ist merkwürdiger Weise gar nicht kitschig, sondern sehr passend. Und Almas Erinnerungen, die wie kleine Lichtblitze immer wieder in der Geschichte auftauchen, mögen zwar für sie verloren sein, aber diese Geschichte schließt sie wie ein Fossil für uns Leser auf eindrückliche Weise ein.
Schade ist nur, dass sie in ihrer Kürze so alleine für sich stehen muss. Gern hätte ich die thematisch verwandten Geschichten der Originalsammlung auch noch gelesen.
Anthony Doerr – Memory wall Novelle
C.H.Beck Verlag Februar 2016, 135 Seiten, Gebunden, 14,95 €