Saskia de Coster – Wir und Ich
Es mangelt nun wirklich nicht an Geschichten über unglückliche, dysfunktionale Familien. Quer über die Literaturen in der ganzen Welt sind sie verteilt und haben natürlich auch eine ganz besondere Bedeutung, ist doch eben gerade die Familie, die uns alle, ob wir wollen oder nicht, als erstes und am anhaltendsten, nachhaltigsten prägt.
Eine solche Familiengeschichte muss etwas Besonderes haben, um aus dieser Flut an Veröffentlichungen herauszustechen. Besonders gut geschrieben muss sie sein, besonders originelle Charaktere besitzen, mit tieferen Einsichten oder Erkenntnisgewinn dienen. Auch eine ganz spezielle Sichtweise oder ein besonderer Humor kann für Aufmerksamkeit sorgen.
Saskia de Costers Roman „Wir und ich“ wird diese Aufmerksamkeit schon alleine deswegen bekommen, weil der im Original 2013 erschienene Roman der belgischen Autorin hier zum Gastauftritt der Niederlande/Flanderns zur Frankfurter Buchmesse veröffentlicht wird.
Aber auch darüber hinaus bietet er eine ganze Reihe von beachtenswerten Besonderheiten.
Die Autorin erzählt von der Familie Vandersandens, die äußerst wohlhabend im Villenviertel am Berg wohnen, denen es an nichts fehlt, und bei der doch, wie so oft, alle Mitglieder irgendwie beschädigt sind, mit ihrem Leben oder zumindest ihrem Glück ringen. De Coster seziert die einzelnen Personen gnadenlos, kaltblütig und doch mit einer ganz speziellen Zugewandtheit. So böse und schwarzhumorig ihr Blick zuweilen ist, verrät sie ihre Protagonisten nicht, auch nicht für eine Pointe.
Vater Stefaan, aus bäuerlichen Verhältnissen kommend und in der Pharmabranche reüssierend, schleppt ein dunkles Geheimnis und Erbe aus der Vergangenheit mit sich herum. Drangsaliert wird er von seiner stets nörgeligen Mutter, die sich auch ein anderes Leben erträumt hatte. Mutter Mieke, aus reichem Hause stammend, ist hochneurotisch und das bestimmt auch ihr Verhältnis zur einzigen Tochter Sarah, die sich im Verlauf des Buches freischwimmen muss. Einzig allein der straffällig gewordenen Bruder Miekes, Jempy, kennt so etwas wie Lebensfreude.
Die Personen sind allesamt interessant, aber nicht besonders einzigartig. Neu und erfrischend ist der Blick der Autorin auf sie. Unpathetisch, keinerlei Rührseligkeit aufkommen lassend, mit schwarzem Humor und Ironie auf die Verhältnisse schauend und dabei immer wieder die Perspektive wechselnd. Auch ein rätselhaftes Wir taucht auf, ist es der berühmte „Chor“, das Schicksal selbst, vielleicht die Autorin in Gemeinschaft mit dem Leser? Das wird nicht ganz deutlich, tut aber der Originalität keinen Abbruch.
Die Art der Erzählung bedingt, dass die Personen dem Leser nie wirklich nahe kommen. Dennoch ist „Wir und ich“ ein spannender, humorvoller und durch seinen etwas anderen Blick interessanter Familienroman. Und daher eine Lektüre wert.
Saskia de Coster – Wir und Ich
Aus dem Niederländischen von Isabel Hessel
Klett-Cotta Verlag 2016, 409 Seiten, gebunden, € 22,95