Sabine Gruber – Daldossi oder Das Leben des Augenblicks
Bilder bestimmen, wie wir die Welt wahrnehmen. Bilder sind es, die unsere Erinnerungen festlegen. Gerade in unserer heutigen Mediengesellschaft wissen wir um die Bedeutungshoheit der Foto- und Filmaufnahmen, die bei allen bedeutenden Ereignissen in Windeseile um die Welt geht. Ob von den jüngsten Terroranschlägen, den Flüchtlingsströmen quer durch Europa oder den Kampfeshandlungen an den unterschiedlichsten Schauplätzen, immer sind es die Bilder, die unsere Wahrnehmung prägen.
Einige von ihnen werden zu wahren Ikonen. Man denke nur an das Foto des kleinen ertrunkenen Flüchtlingsjungen am türkischen Strand. Oder, denn solche Fotos gibt es natürlich nicht erst seit heute, an das nackte vietnamesische Mädchen, das vor einem Napalmangriff davonläuft.
Hinter jedem dieser Fotos steht ein Mensch, der es aufgenommen hat. Fotografen, die teilweise unter Einsatz ihres Lebens auch unter widrigsten Bedingungen mit ihrer Kamera aufzeichnen, was geschieht, die den Augenblick festhalten. Das Leben des Augenblicks, so auch der Titel des neuen Romans von Sabine Gruber.
Bruno Daldossi ist ein solcher Fotograf, der immer an den Brennpunkten dieser Welt unterwegs war. Irak, Afghanistan, Kongo, Kosovo, Tschetschenien – kaum ein Kriegsschauplatz, den er nicht mit der Kamera festgehalten hat. Nun ist er Anfang Sechzig und von seiner Redaktion in Rente geschickt worden.
Im Roman geht es auch um die Verzweiflung, in die er stürzt, als ihn gerade zu dieser Zeit seine langjährige Lebensgefährtin Marlis verlässt. Er verliert völlig den Boden unter den Füßen, als dieser einzige Haltepunkt in seinem rastlosen Leben wegfällt. Dabei war er niemals treu, benutzte Sex immer auch als Mittel zum Vergessen, zum Finden von Trost. Überall, wo er sich bot. Doch nun reist er Marlis nach nach Venedig, wo ihr neuer Freund lebt, versucht, sie zurückzugewinnen.
Viel interessanter als dieser Zweig der Geschichte ist allerdings alles, was um die Arbeit, die Verantwortung und die Aufgabe von Kriegsreportern kreist. Immer wieder wird Daldossi von Erinnerungen an seine traumatischen Erfahrungen heimgesucht, bringen Beobachtungen, Begegnungen, Gegenstände diese zu ihm zurück. Mit diskutiert werden Dinge wie: Inwieweit bedienen die Fotografen die Sensationsgier? Benutzen sie die Opfer, um der eigenen Profilierung willen? Sind sie Adrenalinsüchtige? Der Empathie völlig unfähig?
Vielleicht erinnert sich der ein oder andere an den Skandal, den das Foto eines verhungernden afrikanischen Kindes, hinter dem bereits ein Geier lauerte, entfachte. Hätte der Fotograf, anstatt auf den Auslöser zu drücken nicht lieber den Geier vertreiben, dem Mädchen helfen sollen? 1994 gewann Kevin Carter damit dennoch den Pulitzerpreis.
Die Diskussion von Fragen wie diesen ist es, die diesen Roman zu etwas ganz besonderem macht.
Inspiration war für Sabine Gruber der Ärger über die scharfe Kritik, denen sich Kriegsberichterstatter oft ausgesetzt sehen. Beeinflusst wurde er durch Grubers Freund Volker Krämer, einen Stern-Reporter, der 1999 im Kosovo erschossen wurde. Man kann vermuten, dass sehr viel Persönliches eingeflossen ist.
Das ist nämlich ein weiterer Schwerpunkt des Romans. Wie kann ein Mensch, der ständig von solchen Gräueln und Entsetzlichkeiten umgeben ist, ein halbwegs normales Leben führen, wenn er wieder zuhause ist. Wie mit unseren normalen Wohlstandsproblemchen umgehen, wie eine funktionierende Beziehung führen? Bruno Daldossi ist sicher nicht der einzige, der ohne Alkohol und Tabletten dazu nicht mehr in der Lage ist.
Etwas besser gelingt es seinem Ex-Kollegen Henrik Schultheiß, der sich als Reporter aber auch immer eine etwas größere Distanz zugestanden hat. Seine Ehe mit der Journalistin Johanna konnte das aber auch nicht retten. Sie ist die zweite Person, aus deren Sicht berichtet wird. Johanna ist für eine Reportage über afrikanische Flüchtlingsfrauen nach Lampedusa gereist, wo sie mit Bruno Daldossi zusammentrifft. Dieser entschließt sich am Ende zu einem ungewöhnlichen Schritt.
Sabine Gruber erzählt ihre Geschichte in schöner, dichter Prosa und wirft viele interessante Fragen auf. Eine ist auch die nach der Kontextabhängigkeit von Fotografien. Um sie deuten zu können, braucht der Betrachter immer eine Einordnung des Abgebildeten. Als Beispiel nennt Sabine Gruber das Bild „Die Minenprobe“ von 1942, die eine Frau zeigt, die mit hochgerafften Röcken einen seichten Fluss durchquert. Ein auf den ersten Blick fast idyllisches Foto, wüsste man nicht, dass die Frau von deutschen Soldaten als lebender Minendetektor eingesetzt wurde.
Sabine Gruber flicht in ihren Roman regelmäßig kurze Bildbeschreibungen von Fotos, realen, teils weltberühmten, aber auch von fiktiven Daldossi-Aufnahmen ein. Ein wunderbares Stilmittel, wie ich finde, das die visuelle Vorstellungskraft des Lesers beschwört.
Ein hochinteressantes Buch, das die im Klappentext beschworene Geschichte „einer großen Liebe“, die nicht gänzlich überzeugt, weit in den Hintergrund treten lässt. Eher ein Thesenroman als eine von der Handlung getragene Erzählung, dafür wird diese zu häufig durch Erinnerungen, Querverweise, Standpunkte unterbrochen. Mir hat er dennoch sehr gefallen.
Sabine Gruber – Daldossi oder Das Leben des Augenblicks
Verlag C.H.Beck Juli 2016, gebunden, 315 Seiten, € 21,95