Irmgard Keun – Kind aller Länder
1938 erschien der Roman „Kind aller Länder“ erstmals im Exilverlag Querido. Irmgard Keun, vor 1933 mit zwei Titeln sehr erfolgreiche Schriftstellerin und nun von den neuen Machthabern verfemt, war da bereits auch ein solches heimatloses „Kind“, verfolgt, auf der Flucht durch Europa.
Ihre Stationen waren dieselben wie für die zehnjährige Kully, die, gefragt, ob sie nicht manchmal Heimweh hätte, erst einmal überlegen muss, was Heimweh für sie eigentlich bedeutet.
„Manchmal habe ich Heimweh, aber immer nach einem anderen Land, das mir gerade einfällt. Manchmal denke ich an die singenden Autobusse an der Cote d’Azur, an eine Wiese bei Salzburg, die ein blaues Meer von Schwertlilien war, an die Weihnachtsbäume bei meiner Großmutter, an die Slotmaschinen in New York, an die Riesenmuscheln in Virginia und die Strohschlitten und den Schnee in Polen.“
Kully und ihre Eltern reisen durch Europa. Ihr Vater, der Schriftsteller konnte
„nicht mehr in Deutschland sein, weil eine Regierung Freunde von ihm eingesperrt hat, und weil er nicht mehr sprechen und schreiben durfte, was er wollte.“
Ersetzt man Deutschland durch andere Länder, zeigt sich, wie aktuell das Buch auch heute noch ist.
Irmgard Keun wählt den kindlich-naiven Blick und macht dadurch viele Wahrheiten und Absurditäten umso deutlicher. Etwa:
„Ein Visum ist auch etwas, das abläuft. Zuerst freuen wir uns immer schrecklich, wenn wir ein Visum bekommen haben und in ein anderes Land können. Aber dann fängt das Visum schon an, abzulaufen, jeden Tag läuft es ab – und auf einmal ist es ganz abgelaufen, und dann müssen wir aus dem Land wieder raus.“ oder
„Eine Grenze ist auch keine Erde, denn sonst könnte man sich ja einfach mitten auf die Grenze setzen oder auf ihr herumlaufen, wenn man aus dem ersten Land ’raus muss und in das andere nicht rein darf. Dann würde man eben mitten auf der Grenze bleiben, sich eine Hütte bauen und da leben und den Ländern links und rechts die Zunge rausstrecken. Aber eine Grenze besteht aus gar nichts, worauf man treten kann.“ oder
„Aber wir sind Emigranten, und für Emigranten sind alle Länder gefährlich, viele Minister halten Reden gegen uns und niemand will uns haben, dabei tun wir gar nichts Böses und sind genau wie alle anderen Menschen.“
Die Zitate verdeutlichen ein wenig den Tonfall, den Irmgard Keun wählt.
Eine Kinderperspektive ist meist ein wenig heikel, hier gelingt sie im Großen und Ganzen perfekt. Nur selten schießt sie ein wenig über das Ziel hinaus. Die im kindlichen Plauderton, oft auch staunend über die Welt der Erwachsenen aneinander gereihten Episoden über das Leben in teuren Hotels, die sie sich gar nicht leisten können, den stets auf der Suche nach Geld und Gönnern abwesenden, leichtlebigen und dem Alkohol zugeneigten Vater, die zunehmend verzweifelte Mutter und die kleinen Kinderabenteuer lesen sich amüsant, oft tiefgründig-witzig. Das gibt dem Buch eine große Leichtigkeit, hat allerdings auch oft einen etwas unguten Beigeschmack. Bei aller Hellsicht, die Irmgard Keun auf die Lage in Deutschland und Europa bereits 1938 hatte, welch fürchterliche Ausmaße das Ganze annehmen sollte, konnte sie nicht absehen. Das kindlich-heitere wirkt dadurch manchmal etwas unpassend.
Gerade angesichts der Aktualität der Flüchtlingsfrage ist die Wiederentdeckung dieses gelungenen, eindrücklichen Buchs aber unbedingt zu begrüßen.
Irmgard Keun – Kind aller Länder
Kiepenheuer&Witsch August 2016, 224 Seiten, gebunden, 17,99 €