Han Kang – Die Vegetarierin
Alle reden über Han Kang, alle lesen „Die Vegetarierin“, jenen schmalen Roman der Südkoreanerin, der im Mai diesen Jahres überraschend den Man Booker International Preis erhielt. Die Literaturkritik überschlägt sich dabei in ihrem Lob, „Meisterwerk“, „Ereignis“ sind dabei verwendete Vokabeln.
Ein derart durchschlagender Erfolg in der westlichen Welt war bis dahin anscheinend nicht vorhersehbar, erschien die englische Übersetzung des 2007 im Original veröffentlichten Roman doch erst acht Jahre später in England, in den USA und Deutschland sogar erst in diesem Jahr.
Es ist auch eine fremd anmutende Welt, in die uns die Autorin in drei Abschnitten, die zunächst separat erschienen, führt. Sie alle kreisen um dasselbe Sujet. Ein Sujet, das eine merkwürdige Leerstelle darstellt. Denn Yong-Hye, die junge Frau, die mit ihrer Weigerung, weiterhin Fleisch zu sich zu nehmen, dem Buch den Titel gab, bekommt in der Geschichte keine eigene Stimme. Lediglich im ersten Teil, der von ihrem lieblosen, gänzlich unsympathischen Mann erzählt wird, wird sie durch die Schilderung ihrer verstörenden, oft blutig-gewaltsamen Träume, sichtbar. „Ich hatte einen Taum.“ ist auch ihre Begründung für ihre plötzliche, radikale Abkehr, ihren Ekel vor allen tierischen Produkten. Sie weigert sich fortan nicht nur diese zu essen, sondern auch, sie im Haus zu haben. Weitere Erklärungen gibt sie nicht. Das schafft eine beklemmende, fast unheimliche Atmosphäre. Für den Leser, der über dahinter verborgene Ursachen rätselt. Aber natürlich auch für ihre Umgebung. Diese reagiert nicht nur völlig fassungslos, sondern erschreckend intolerant, ja gar gewalttätig. Anders als in unserer Gesellschaft, in der vegane oder zumindest fleischlose Ernährung mittlerweile fast zum guten Ton gehört, scheint sie in der fleischbetonten koreanischen Küche ein Akt des Widerstandes, der Anarchie zu sein. Widerstand gegen eine Gesellschaft, die sehr strenge soziale Normen besitzt, die noch gnadenlos patriarchal und darin erschreckend gewaltbereit zu sein scheint. So versuchen auch ihr Ehemann und ihre Familie Yong-Hye notfalls mit Gewalt zum Fleischverzehr zu zwingen, ächten sie, als das nicht gelingt (sie flieht in einen Selbstmordversuch), die Ehe scheitert.
Der genaue Grund für ihre radikale Abkehr vom Konsum tierischer Produkte wird wie gesagt an keiner Stelle expliziert erklärt. Die Identifizierung von Fleischproduktion und –verzehr mit Gewalt liegt aber nahe. Yong-Hye lehnt sich demnach gegen die in der Gesellschaft, in der Familie, der Ehe herrschenden Gewalt auf. Es ist eine Rückkehr zur Unschuld der Pflanzen, die die junge Frau anstrebt. Um sich von ihren zerstörerischen Träumen zu heilen. Dass das ganze schließlich in Selbstzerstörung endet, als sie die Nahrungsaufnahme gänzlich verweigert und wie die Pflanzen nur noch von Wasser und Licht leben möchte, zeigt ihre tiefe psychische Verstörung.
Im zweiten Abschnitt erzählt der Schwager, ein mäßig erfolgreicher Videokünstler. Seitdem er vom Mongolenfleck am Gesäß Yong-Hyes erfahren hat, ist er von einer sexuellen Obsession erfasst. Diese Flecken treten meist nur im Kleinkindalter auf und verblassen danach. Was den Schwager aber derart daran fasziniert, erschließt sich nicht. Dieser Abschnitt, der in der Körperbemalung der Beiden (natürlich mit Pflanzen) und der detaillierten Beschreibung der Videoaufnahme ihrer körperlichen Vereinigung mündet, ist für mich daher auch der schwächste der drei Abschnitte. Auch der Schwager bricht mit seiner Obsession aus dem engen Korsett gesellschaftlicher Konventionen aus. Er missbraucht damit aber auch die psychisch sehr angeschlagene Yong-Hye. Einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bietet dieser Teil des Buches aber nicht.
Der letzte Teil wird von In-Hye, der Schwester erzählt. Diese hat die Einlieferung von Ehemann und Yong-Hye in die Psychiatrie erwirkt, als sie die Beidem bei einem Videodreh überraschte. Bei zahlreichen Besuchen in der geschlossenen Einrichtung muss sie den zunehmenden Verfall ihrer Schwester beobachten, erinnert sich an die gewaltbesetzte Kindheit, versucht so etwas wie Verständnis aufzubringen. Was ihr auch ein Stück weit gelingt. Gleichzeitig rutscht die ganze Geschichte ins Traumartige ab.
So schockierend die geschilderten Dinge zeitweise sind, Hang Kang erzählt sie völlig unaufgeregt, fast schon lapidar. Ihr gelingt damit ein sehr dichtes, radikales Stück Prosa, das den Leser mit sehr vielen Fragen zurück lässt. Unter anderem der, was man da eigentlich gerade eben gelesen hat. Sicher, Interpretationsmöglichkeiten bieten sich einige an, das Buch beschäftigt auch noch nach dem Zuklappen. Das ist gewiss sein Verdienst.
Nach dem ersten, sehr starken Abschnitt, verrätselt es sich aber zunehmend, rückt gewissermaßen von den angebotenen Deutungsmöglichkeiten ab, ja, langweilt sogar. Die Provokation will nicht greifen. Das ist schade. Gälte das überschwängliche Lob nur der ersten der drei Geschichten, könnte ich mich anschließen. So bleibe ich ein wenig ratlos zurück. Mit der Geschichte, aber auch mit dem sich für mich nicht so ganz erschließenden großen Jubel über das Buch.
Han Kang – Die Vegetarierin
Aufbau Verlag August 2016, Gebunden, 190 Seiten, 18,95 €