Bodo Kirchhoff – Widerfahrnis

Bodo Kirchhoff – Widerfahrnis

Bodo Kirchhoff - Widerfahrnis

Amavero – Ich werde geliebt haben.

Auf langen Spaziergängen mit dem Vater hat Julius Reither einst das Konjugieren lateinischer Verben geübt. Amare – lieben – war eines davon. Sein Futur II – Ich werde geliebt haben – passt sehr gut zu der Geschichte, die Bodo Kirchhoff in seiner Novelle erzählt.

Julius Reither ist über 60 und war bis vor kurzem Verleger in einem Frankfurter Kleinverlag mit angeschlossener Buchhandlung. Als das Geschäft drohte einzuschlafen, wurde es liquidiert und mit den Erlösen ließ sich Reither in einer Wohnresidenz in den Bergen nieder.
Dort begegnet er nun die etwas jüngere Leonie Palm, die wiederum leitet in dieser Residenz einen Lesezirkel und möchte den Ex-Verleger gerne dafür gewinnen. Nicht ganz uneigennützig, denn auch sie selbst hat mit dem Schreiben begonnen nachdem ihr kleiner Hutladen immer weniger Kunden angezogen hatte.

Aus dieser Begegnung an Reithers Tür entsteht eine spontane nächtliche Fahrt an den benachbarten Achensee, aus der schließlich eine Reise bis nach Sizilien führt.

Es folgt eine Roadnovelle, die sehr atmosphärisch und konzentriert erzählt wird.
Reither und Palm sind beide einsame Seelen. Beziehungen, seien es familiäre oder freundschaftliche, scheinen kaum zu bestehen. Leonie Palm leidet zudem unter dem Selbstmord ihrer Tochter. Zwei, die nahezu verzweifelt die Möglichkeit eines (letzten?) Aufbruchs zu etwas Neuem, Unbekannten und die Chance auf so etwas wie Nähe oder gar Liebe zu ergreifen versuchen.

Doch kommen sich die Beiden im Laufe der Reise wirklich näher? Reicht der Wille zur Liebe aus, oder gehört dazu nicht auch ein gewisses Maß an Liebesfähigkeit? Trotz allem teenagerhaften Händchenhalten bleiben sie sich erschreckend fremd. Reither bleibt Reither und aus „der Palm“ wird zwar schließlich „Die mit der er geschlafen hatte“, aber wirkliche Verbundenheit sucht man vergeblich. Reither, aus dessen personaler Perspektive erzählt wird, sucht die Liebe, ist in ihr aber seltsam ungeübt.

„Das Lieben, das Vergehen darin, alles Schmelzen, er hatte es immer vermieden und dafür Bücher gemacht, die davon erzählten.“

Das Scheitern, dieses „Ich werde geliebt haben“ ist Reither jeden Moment präsent, sitzt quasi von Anfang an mit im Wagen.

Konnte man nun vermuten, dass die „unerhörte Begebenheit“, die nach klassischen Maßstäben zur Novelle gehört, in dieser, mehr oder weniger aussichtslosen Liebesbegegnung besteht, diesem „Widerfahrnis“, so geschieht in Catania etwas, das einen neuen Aspekt in die Geschichte bringt.

Die beiden Reisenden treffen hier auf ein scheinbar unbegleitetes Flüchtlingsmädchen. Schon auf der Reise in den Süden fielen immer wieder die Menschen auf, die mit Sack und Pack auf dem Weg nach Norden sind. Bisher nur Schemen, Randgestalten an den Straßen, auf den Autobahnraststätten.

Nun ein junges Mädchen, das ihnen billigen Schmuck verkaufen will. Sie nehmen sich ihrer an, lassen sie bei sich im Hotel schlafen, verpflegen sie und kleiden sie ein. Schließlich schaffen sie sie im Auto auf die Fähre zum Festland. Ohne große Absprachen scheinen sie sich einig, das Mädchen mitzunehmen. Ein Impuls, zu helfen, selbstlos, altruistisch? Eher nicht. Keiner von Beiden fragt das Mädchen, das bezeichnender Weise keinen Namen trägt, nach seinen Wünschen. Ihr Verbringen ins Auto ähnelt fast einer Entführung. Sehen hier zwei Wohlstandsbürger eine Chance zur Erfüllung eigener Sehnsüchte? Ist es das „Mädchen von sonst wo, mit dem vielleicht alles sinnvoll geworden wäre.“

Bodo Kirchhoff ist zu klug, als dass es klappen könnte mit der Liebe oder gar der erzwungenen Familie. Zudem prüft er Erzähltes und Sprache ständig auf ihre Tragfähigkeit. Reither ist ein Mann der Literatur. So beginnt er den Text mit dem Satz:

„Diese Geschichte, die ihm noch immer das Herz zerreißt, wie man sagt, auch wenn er es nicht sagen würde, nur hier ausnahmsweise, womit hätte er sie begonnen?“

Dieses Hinterfragen der eigenen Erzählung ist einerseits reizvoll, andererseits auch ein wenig eitel. Wie überhaupt in der sehr großen Nähe des Autors zum Protagonisten für mich ein Problem steckt. Man muss gar nicht das oft verwendete, ziemlich despektierliche Wort der „Altherrenprosa“ verwenden, aber im Text herrscht ein gewisser Ton, eine gewisse Atmosphäre, die trotz aller Kunstfertigkeit, die er besitzt, bei mir ein Unbehagen auslösen.
Das Milieu ist leicht elitär. Man ist gebildet, lebt in finanzieller Sorglosigkeit in einer luxuriösen Residenz in den Alpen, war als Verleger und Inhaberin eines Hutladens zeitlebens abseits vom Durchschnittsbürger. Nun erfüllt man mit unzähligen gerauchten Zigaretten, dem Rotwein, der zu den absolut essentiellen Lebensbestandteilen zu gehören scheint, der Lederjacke oder dem BMW-Cabrio älterer Bauart einem ganz typischen Klischee. Zur finanziellen Unabhängigkeit kommt die Bindungslosigkeit und nach der Pensionierung auch die persönliche Freiheit. Nur etwas damit anzufangen scheinen die Protagonisten nicht zu können. Dazu passen dann auch die allfälligen Beschwerden über die heutige Welt, die keine „Hutgesichter“ mehr besitzt, bald „mehr Schreibende als Lesende“ hat etc.
Selbst Reithers Hadern mit seiner Kinderlosigkeit nachdem er einst seine damalige Partnerin Christine (übrigens auch auf einer Italien-Fahrt) zu einer Abtreibung des gemeinsamen Kindes gedrängt hatte, bekommt so etwas Selbstmitleidiges.

Da weiß man dann schon nicht mehr, das Einbetten der aktuellen Flüchtlingsproblematik richtig einzuordnen. Stellungsnahme oder nur ein wenig tagespolitischer Pep? Am Ende vermag Reither dann noch einer afrikanischen Familie zur Flucht zu verhelfen. Nicht nur allein durch die Anklänge an die heilige Familie auf der Flucht bekommt das Ganze etwas leicht Süßliches, das der Thematik nicht gut tut. Und das wiederum einen Zug ins Selbstmitleid enthält.

„Diesen jungen Mann auf der Flucht, den beneidete er um sein Leben ohne Dach und ohne Bett, ohne Konto und ohne Fürsprache, mit nichts in der Hand außer Frau und Tochter und dem eigenen Mut.“

Bodo Kirchhoff hat in Widerfahrnis Vieles sehr gut gemacht. Die Novelle ist klug und präzise gebaut, in eleganter Sprache verfasst, fängt die Atmosphäre einer Fahrt in den Süden perfekt ein, vereinigt immerwährende Themen wie Liebe und Altern mit einem brisanten neuen, nämlich der Flüchtlingsbewegung und schafft gegen Ende eine zunehmend ansteigende Spannung. Außerdem lässt er den Schaffensprozess, die Verfertigung des Textes wie nebenbei einfließen.

Trotzdem: Ich habe mich seltsam unwohl gefühlt in diesem satten, selbstbezogenen Milieu.

Bodo Kirchhoff – Widerfahrnis

Frankfurter Verlagsanstalt September 2016, gebunden, 224 Seiten, € 21,-

2 Gedanken zu „Bodo Kirchhoff – Widerfahrnis

  1. Ich kann Deiner Kritik nur zustimmen, eine Art Roadmovie, allerdings minderer Qualität, folgen. Wobei einer der Protagonisten offenbar so gerne Auto fährt, wie der meistüberschätzte norwegische Autor raucht. Zwischendurch ist noch „.. irgendwas mit Flüchtlingen“, ansonsten lässt die vergreiste Toscana Fraktion grüssen.
    Durchgehend eine mit Verlaub nur besch…ne Sprache, die zur absoluten Lese-Einöde und zum großen Missvergnügen des Rezensenten beiträgt.

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