Eva Schmidt – Ein langes Jahr

Eva Schmidt – Ein langes Jahr

eva-schmidt- Ein langes Jahr

Wir sehen eine Stadt am See – obwohl nie explizit erwähnt, leicht als Eva Schmidts Wohnort Bregenz zu identifizieren -, der Roman beginnt mit einer Totalen darauf. Es ist früh am Morgen, der Herbst beginnt und die Autorin zoomt langsam näher, nimmt eine Siedlung ins Visier, kleine Siedlungshäuschen, Villen, ein Hochhaus. In 38 meist sehr kurzen Kapiteln werden nun einzelne Bewohner vorgestellt, fast dreißig an der Zahl. Sie gewähren dem Leser kurze Einblicke in ihr Leben, meist in der personalen, in einzelnen Fällen auch in der Ich-Perspektive.

„Sehnsüchtig sein heißt nicht wissen, wohin man möchte.“

Dieses Zitat von Robert Walser hat Eva Schmidt ihrem Buch vorangestellt.

Sehnsüchtig sind sie, auf unterschiedliche Weise auch orientierungslos, ohne Antwort auf die Frage wohin. Sie leben, wie die heutigen Menschen zumeist, mehr oder weniger beziehungslos nebeneinander her. Man sieht sich im Vorbeigehen, man grüßt sich, man weiß kaum etwas voneinander.
Aber man beobachtet sich – durch Fenster, von Balkonen, in Gärten, auf der Straße. Dadurch entstehen feine Beziehungsgeflechte, die der Leser zunehmend gespannt und fasziniert verfolgt. Wie kleine Mosaikteilchen passen die kleinen, anfangs eher etwas zusammenhanglosen Szenen schließlich zusammen und geben am Ende tatsächlich ein berührendes Bild eines ganzen Jahres.

Es wird gelebt und gestorben, Nachbarn werden alt und hilfebedürftig, Beziehungen zerbrechen, andere werden neu geknüpft, Träume blitzen kurz auf und werden meist zerschlagen, oft sind Hunde die letzten verbleibenden oder ersehnten Bindungen. Es ist eng dort in der Siedlung am See und ein wenig trostlos.

Einmal wagt ein unglücklicher Junge den Ausbruch, fährt mit dem Zug nach Innsbruck, dort auf einen Berg und verbringt die Nacht in einer Berghütte ganz allein. Kläglich kehrt er am nächsten Tag doch nach Hause zurück. Seine Abwesenheit wurde vom vielbeschäftigten, alleinerziehenden Vater gar nicht bemerkt.

Auch die ehemalige Reporterin, die allein mit ihrem Hund lebt, sehnt sich nach dem Draußen. Immer wieder klickt sie sich in die Webkamera von Peggy´s Cove in der kanadischen Provinz Nova Scotia ein. Ein Freund von ihr wohnt dort, einmal hat er für sie in die Kamera gewinkt, seiner Einladung ist sie nie gefolgt. Am Ende des Buches wird sie es aber sein, die ein Zeichen setzt für Aufbruch, für Neuanfang. Ein hellblaues Wohnmobil steht vor der Tür. Gibt es ein schöneres Symbol für Hoffnung?

Eva Schmidt erzählt sehr zurückhaltend, ihr Blick ist distanziert, aber nie ohne Anteilnahme. Das lässt ihren sehr kunstvollen, aber nie künstlichen Romanaufbau umso mehr wirken. Auch bei den traurigsten, erschütterndsten Szenen kommt zu keinem Zeitpunkt etwas wie Pathos oder Kitsch auf. Das macht sie umso eindrucksvoller.
Ein Jahr, um die dreißig Leben, gerade mal 200 Seiten – große Kunst.

Eva Schmidt – Ein langes Jahr

Jung und Jung Februar 2016, gebunden, 212 Seiten, € 20,–

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