Elizabeth Strout – Die Unvollkommenheit der Liebe
Auf dem Buchcover leuchtet das Chrysler Building in der New Yorker Nacht. Im Vordergrund flirren einige Lichter.
Auch ein wenig flirrend, leicht surreal ist die Episode, von der Lucy Barton, die Ich-Erzählerin in Elizabeth Strouts Roman „Die Unvollkommenheit der Liebe“, hauptsächlich erzählt.
Es sind 5 Tage und 5 Nächte, in denen sie ihre Mutter am Krankenbett besuchte. Nach einer Routineoperation traten plötzlich Komplikationen auf. Ein unerklärliches, lang andauerndes, lebensbedrohliches Fieber wütete in Lucy, fesselte sie schließlich neun Wochen ans Krankenhaus. Besonders einprägsam blieb die Zeit mit ihrer Mutter, die tage- und nächtelang an ihrem Bett saß und erzählte, niemals zu schlafen schien.
Ziemlich bald wird klar, dass es eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung war, dass sich die beiden zuvor jahrelang nicht gesehen hatten.
Lucys Kindheit war schwer. Die wirtschaftliche Lage war äußerst prekär. Der Vater war aus dem Krieg mit etwas heimgekehrt, was man heute wohl als posttraumatische Belastungsstörung kennt, damals aber totgeschwiegen wurde, starke Stimmungsschwankungen, Neigung zu Gewaltausbrüchen. Auch die Mutter war lieblos, gedankenlos. Die Kinder litten unter Vernachlässigung, besonders aber die jüngste Tochter, Lucy.
„Ich kenne den Schmerz noch so gut, den wir Kinder mit uns herumtragen, diesen Schmerz, der unser ganzes Leben vorhält, eine Sehnsucht, so groß, dass selbst zum Weinen kein Platz bleibt.“
Immer wieder schweifen Lucys Gedanken, auch wenn die Freude über die Anwesenheit der Mutter groß ist, ab in diese glücklose Zeit.
„Dann meine ich wieder, hören zu können, wie mein Herz in mir bricht, so wie man draußen auf den Feldern meiner Jugend manchmal – wenn sämtliche Bedingungen stimmten – hören konnte, wie der Mais wuchs.“
Lucy konnte ihrer Jugend in Amgash, im ländlichen Illinois nach New York entfliehen, eine eigene Familie gründen. Auch wenn der Preis der Bruch mit dem Elternhaus war. Wie stark die Bande aber immer bleiben, zeigt sich Lucy Barton während ihrer Krankheit. Sie sieht die Versäumnisse ihrer Mutter klar, aber da ist keine Anklage.
„…über eine Mutter, die ihre Tochter liebt. Unvollkommen. Weil wir alle nur unvollkommen lieben können.“
Die tiefe Verbundenheit, manchmal auch ungewollt, manchmal auch unglückselig, zwischen Müttern und Töchtern ist eines der Themen des Romans. Lucys Mutter wird es nicht schaffen, ihre Liebe auch einmal auszusprechen.
Und Elizabeth Strout ist natürlich Meisterin im Schildern des Alltäglichen, des sogenannten „normalen Lebens“.
Lucy Barton erinnert sich sehr viel später an die damaligen Tage im Krankenhaus, ihre Kindheit, ihre Jugend, aber auch an ihre gescheiterte Ehe mit ihrem damaligen Mann, das Verhältnis zu ihren eigenen Töchtern, die sie verließ, um Schriftstellerin zu werden.
Das ist ein weiteres Thema des Romans. Lucy Barton nimmt nach ihrem Krankenhausaufenthalt an einem Schreibworkshop teil. Sie entdeckt die Möglichkeit, ihre Vergangenheit schreibend zu verarbeiten.
Elizabeth Strout ermöglicht das, eine Metaebene in den Roman zu ziehen. Sie kann so immer wieder den Schreibvorgang selbst reflektieren. So schreibt sie z.B. mit der Stimme der Workshop-Leiterin, aber ganz sicher auch in eigener Sache:
„Es ist nicht meine Aufgabe, den Lesern den Unterschied zwischen einer Erzählstimme und dem persönlichen Standpunkt des Autors zu erklären.“
Und über die Aufgabe einer Schriftstellerin:
„…ihre Aufgabe als Schriftstellerin sei es, über das menschliches Dasein zu berichten, darüber, wer wir sind und was wir denken und was wir tun.“
So einfach, und so komplex. Und das tut Elizabeth Strout mit jedem Buch, leise, empathisch, unspektakulär und schonungslos und mit großem Können.
Elizabeth Strout – Die Unvollkommenheit der Liebe
Luchterhand August 2016, gebunden, 208 Seiten, € 18.-
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gerade erst diese Rezension gefunden! ich mag die Bücher von E. Strout unheimlich gerne. Das Buch kommt sofort auf die lange Liste!
Gruß
Erika