Rafael Chirbes – Paris-Austerlitz
Am 15. August 2015 starb der spanische Autor Rafael Chirbes im Alter von 66 Jahren.
Chirbes war nicht nur einer der bedeutendsten Schriftsteller seines Landes, er war auch einer der schärfsten Analytiker der spanischen Gesellschaft seit den Zeiten des Bürgerkriegs.
1990 erschien sein erster Roman, „Mimoun“, auf Deutsch. Und zeitweise war Rafael Chirbes in Deutschland erfolgreicher als in seinem Heimatland.
Mit diesem ging er stets hart ins Gericht, thematisierte immer wieder, dass Spanien seine Vergangenheit nie offen aufgearbeitet hat, die durch den Bürgerkrieg entstandenen Gräben nur locker zugeschüttet wurden. Auch mit der Nachkriegsgesellschaft kannte er kein Pardon. Die Verlogenheit, der Materialismus der Mittel- und Oberschicht, besonders auch das Umgehen mit dem Wirtschaftsboom und dann der Wirtschaftskrise, in der immer nur die „Kleinen Leute“ die Verlierer waren, vor allem auch die Immobilienblase, die in Spanien besonders ausgeprägt war, waren ihm als altem „Linken“ ein Dorn im Auge.
So wurde er mit seinen Romanen, begonnen mit dem wunderbaren „Die schöne Schrift“ bis zu „Am Ufer“ zum unbestechlichen Analytiker und Chronisten der spanischen Gesellschaft. Dabei verpackte er seine Themen meist in Generationen umspannenden Familiengeschichten und wurde mit den Jahren zunehmend komplexer und auch umfangreicher. Trotz der zahlreichen Auszeichnungen, die gerade seine jüngeren Werke bekamen, tat das den Texten nicht immer gut.
Nun erschien aus dem Nachlass ein Werk, an dem Chirbes wohl seit mehr als zwanzig Jahren gearbeitet hatte und das mit nur 160 Seiten an die schmalen Werke seiner Frühzeit anknüpft. Auch thematisch bildet es mit „Mimoun“ eine Art Klammer. Denn es ist wie dieses ein sehr persönliches Buch geworden.
Es spielt in den frühen 90 er Jahren in Paris. Der junge Ich-Erzähler, Sohn aus begütertem Haus und Maler, flieht aus dem für ihn eng gewordenen Madrider Elternhaus in die französische Hauptstadt. Dort lernt er den wesentlich älteren Arbeiter Michel kennen. Die beiden werden ein Paar. Der unkomplizierte Michel fasziniert den Erzähler zunächst durch seine Andersartigkeit, seine Leidenschaftlichkeit, seine ausschweifende Sexualität.
„Ein Typ, dem es genügte, wenn der Lohn bis Monatsende und zum Ausgehen mit dem Freund am Wochenende langte; der zufrieden damit war, durch die Stadt zu streunen, ins Kino zu gehen, in einen Animierclub, zu einem Abendessen, trinken und lachen, sich berühren, Liebeserklärungen abgeben, die mit steigendem Alkoholpegel immer feuriger wurden(…)“
Doch nach und nach sind es gerade diese Dinge und Michels bedingungslose, besitzergreifende Liebe, die den Ich-Erzähler zunehmend erdrücken und schließlich gar abstoßen. Es kommt zum Bruch.
Erzählt wird die Geschichte rückblickend, das Ende vorwegnehmend. Michel ist mittlerweile an einer Krankheit, sie wird nicht ausdrücklich benannt, aber es wird wohl AIDS sein, tödlich erkrankt. Der Erzähler zieht sich noch mehr zurück, benennt auch Widerwillen, Abwehr und Angst.
„Und mich ärgerte die Willfährigkeit, mit der er sich hatte packen lassen, dass er es der Krankheit so leicht gemacht hatte. (…) In jenen Tagen wollte mir der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass dieses Übel im Grunde Ausdruck von mangelndem Ehrgeiz, ja sogar von fehlendem Stolz sei.“
In einer grausam genauen Selbstbefragung durchlebt der junge Maler noch einmal die Stationen dieser Liebe, nicht chronologisch, sondern in Erinnerungsbruchstücken, in denen Chirbes Zeit- und Perspektivebenen kunstvoll ineinander verwebt. Zunächst nach einer Selbstrechtfertigung klingend, wird die Analyse immer mehr auch zu einer Selbstanklage. Nachdem der junge Spanier eine Weile bereitwillig in die Parallelwelt der schäbigen Wohnungen, der Alkohol- und Drogenexzesse, des ausschweifenden Sex eingetaucht ist, wird er ihrer doch bald überdrüssig. Die sozialen Schranken, die die beiden Männer voneinander trennen kann auch die Liebe nur schwer überwinden. Bei aller Intimität des Erzählten, kommt bei Rafael Chirbes so doch auch wieder die Klassenfrage zum Tragen, werden soziale Muster aufgezeigt, drängt das Politische ins Private.
Chirbes schreibt ungeheuer intensiv und dicht, unsentimental und kühl, schreckt auch vor expliziten Schilderungen von Sexualität nicht zurück, ohne jemals voyeuristisch zu sein. Er schafft dadurch ein sehr atmosphärisches Buch, das gerade durch seine Offenheit und Wucht sehr zu berühren vermag.
Es ist sehr traurig, dass „Paris-Austerlitz“ das letzte Werk von Rafael Chirbes bleiben wird.
Kunstmann Verlag August 2016, gebunden, 160 Seiten, 20.00 €
Ach wie schön! Ich habe das Büchlein auch gelesen, wusste aber noch nicht recht darüber zu schreiben. Deine Besprechung ist sehr stimmig geworden.
Viele Grüße!