Jean-Luc Seigle – Der Gedanke an das Glück und an das Ende
Es liegt eine ungeheure Traurigkeit auf diesem Buch. „En vieillissant les hommes pleurent“ lautet der Originaltitel.
Derjenige, der da älter wird, ist Albert Chassaing, 53 Jahre, Arbeiter bei Michelin, irgendwo in der französischen Provinz nahe Clermont. Man schreibt das Jahr 1961, Frankreich befindet sich im Algerien-Krieg und auch Alberts ältester Sohn ist in diesen Krieg gezogen, schmerzlich vermisst von seiner ihn über alles liebenden Mutter Suzanne. Die Ehe von Albert und Suzanne ist schon lange nicht mehr glücklich, Albert liebt seine Frau noch, kann mit ihr aber nicht reden, versteht sie nicht, verschließt sich. Er fühlt sich vor allem hingezogen zu seinem eigenwilligen jüngeren Sohn Gilles, dem im Schatten seines großen Bruders nur wenig mütterliche Liebe zukommt, der nichts lieber tut als Bücher zu lesen, der in der Schule erfolgreich ist, aber in sich gekehrt, verschlossen.
Zunächst ahnt der Leser nicht, wie es zu Alberts bodenloser Traurigkeit, seiner Erschöpfung, seinem Lebensüberdruss kommen konnte. Die Chassaings sind keine glückliche Familie, aber da sind auch keine offensichtlichen Abgründe.
Wir als Leser begleiten die Familie, dazu gehört noch die alte Madame Chassaing und in Gedanken der früh verstorbene Vater Alberts, nur eine kurze Zeit, erleben, wie der erste Fernsehapparat bei ihnen ankommt – unter großer Anteilnahme der gesamten Dorfbevölkerung – , verfolgen die Annäherung von Gilles an den neuen Nachbarn, einen ehemaligen Lehrer, beobachten, wie Suzanne mit dem Postboten anbändelt. Es geschieht nichts weiter und doch erleben wir, wie sich die Schlinge der Traurigkeit und Verzweiflung um Albert immer enger zieht. Irgendwann wird klar, dass sie auch mit Erlebnissen zu tun hat, die noch in die Zeit des Zweiten Weltkrieges, in dem der Vater Soldat war, zurückreichen. Dieser war 1940 auf Burg Schoenenbourg stationiert, einer der Festungen der sogenannten Maginotlinie, die Frankreich vor einem Angriff Deutschlands schützen sollte. Die Deutschen umgingen und durchbrachen diese „uneinnehmbare“ Linie allerdings, was sehr bald zur Kapitulation Frankreichs führte – ein französisches Trauma.
Im letzten Teil des Buches – nicht wirklich integriert – geht der nun 60jährige Gilles als Professor auf diese Maginotlinie und ihre Bedeutung ein. Dieser Abschnitt war zwar recht interessant, passte aber für mein Empfinden in seiner Sachlichkeit nur wenig zu der zuvor erzählten Familiengeschichte, in der der Autor ganz leise, eindringlich einer großen Lebenstraurigkeit und ihrer Auswirkung auf die gesamte Familie nachzugehen versucht. Das ist ihm sehr atmosphärisch, sehr berührend und poetisch gelungen.
Das Buch ist bereits 2014 auf Deutsch erschienen und hat meiner Meinung nach viel zu wenig Aufmerksamkeit erfahren. Vor kurzem erschien ein neues wunderbares Buch Jean-Luc Seigles – „Ich schreibe Ihnen im Dunkeln„.
Grund genug, auch an „Der Gedanke an das Glück und an das Ende“ zu erinnern.
C.H.Beck Verlag Juli 2014, gebunden, 224 Seiten, 18,95 €