Bill Clegg – Fast eine Familie
„Und kein Mensch wird sich an uns erinnern – wer wir waren und was hier geschehen ist. Sand wird über die Pacific Avenue und gegen die Fenster des Moonstone wehen, und neue Menschen werden kommen und den Strand hinunter zum großen Ozean gehen. Sie werden verliebt sein oder verloren, und sie werden keine Worte haben. Und das Rauschen der Wellen wird für sie klingen wie für uns, als wir es das erste Mal gehört haben.“
So endet Bill Cleggs Roman „Fast eine Familie“ (Original: „Did you ever have a family?“)
Es ist der erste Roman nach der Veröffentlichung zweier Memoirs, die er über seine Drogensucht, den Entzug und seine Rehabilitierung geschrieben hat. Mittlerweile arbeitet Clegg wieder als äußerst erfolgreicher Literaturagent.
In den Schlussworten des Romans klingt dessen Stimmung sehr schön an: Er ist zart und lyrisch, ruhig und gemessen. Ein wenig korrespondiert der Ton mit den leicht betäubten, trauernden Menschen von denen er erzählt.
Denn das Buch ist eines über eine unendliche Traurigkeit und eines über eine zerbrochene Familie. Der Grund für diese tiefe Trauer steht als Tragödie, als großer Knall am Beginn der Geschichte: Bei einem Hausbrand am Vorabend der Hochzeit ihrer Tochter verliert June ihre gesamte Familie. Braut und Bräutigam, Lebenspartner und Ex-Mann – alle tot. June, die sich in der Nacht kurz im Garten aufgehalten hatte, ist die einzige Überlebende.
Wie kann man eine solche Katastrophe überstehen, wie weitermachen? June packt nach den Beerdigungen ihre Sachen, steigt ins Auto und fährt gen Westen, von dem kleinen beschaulichen Ort Wells in Maine quer durch nach Moclips an der rauen Küste Washingtons. Von dort stammte der Bräutigam Will, dort hatte Junes Tochter Lolly mit ihm glückliche Wochen im kleinen Motel Moonstone verlebt. Das Verhältnis zwischen June und Lolly war seit der Scheidung von Adam ein schwieriges. Dass dieser sie betrogen und belogen hatte, hatte sie ihrer Tochter nie erzählt. Wie in vielen Familien und Beziehungen herrschte auch hier ein unglückseliges Schweigen. Aber durch die Beziehung zu Will schien eine Wiederannäherung zwischen Mutter und Tochter plötzlich möglich.
Und auch eine neue Liebe fand June in dem zwanzig Jahre jüngeren afroamerikanischen Luke. Eine Liebe, die von der kleinstädtischen Bevölkerung außerordentlich misstrauisch beäugt wurde. Zwar war der junge Mann, der in Wells eine Landschaftsgärtnerei betrieb, sehr beliebt. Aber ein junger Schwarzer mit einer so viel älteren, wohlhabenden, weißen New Yorkerin? Überhaupt diese New Yorker, die Sommer für Sommer an der idyllischen Küste Maines einfallen und sich von der Bevölkerung bedienen lassen, die Preise hochtreiben und im Herbst alles verwaist zurücklassen. Klatsch und Tratsch kocht hoch. Noch dazu, weil Lukes Mutter Lydia, die Dorfschönheit, äußerst aufmerksam beobachtet wird, seitdem sie ihrem Mann einst ein farbiges Kind „unterjubeln“ wollte. „Schlampe“ ist noch eine der nettesten Bezeichnungen der Einheimischen für sie.
Lydia ist nun neben June die zweite Hauptfigur des Romans. Ihnen gehört der größte Anteil am Chor der Stimmen, dem wir, manchmal in der dritten Person, bei anderen wieder in der ersten, lauschen. Während June ihre Reise tut, versucht Lydia ihrer Trauer und Isolation Herr zu werden, denkt voller Bedauern an die Entfremdung, die auch zwischen ihr und Luke bestand, an ihre schwierige Vergangenheit. Andere Stimmen gehören einer Floristin und ihrem Sohn, der den örtlichen Catering-Betrieb führt, und die zur Stimme der Bevölkerung von Wells werden. Zu Wort kommen der Vater Wills, die Betreiberinnen des Moonstone, der Vater Lukes, der von seiner Vaterschaft nie etwas ahnte, ein junger Drogensüchtiger der sich für den Brand mitverantwortlich fühlt.
Diese Polyphonie von Stimmen, von Menschen, die mal mehr mal weniger von dem Unglück betroffen sind, entwickelt ein interessantes Bild ihrer Gemeinschaft, sei es in der Familie, sei es im Dorf. Auch wenn sie sich stilistisch wenig unterscheiden, gewinnt der Roman durch diese unterschiedlichen Perspektiven.
Welche Entscheidungen führten zu dieser Tragödie, wie sind die Figuren mit ihr verbunden, welche Konsequenzen müssen sie tragen? Ganz langsam ergibt sich ein umfassendes Bild.
Die Brandkatastrophe konfrontiert auch den Leser mit seinen tiefsten Ängsten – Verlust der Liebsten – und führt in absolute Dunkelheit. Aber diese Meditation über Trauer und Weiterleben, Fehlentscheidungen und Vergebung bietet auch viele Trostmomente, Wärme und Empathie. Denn in der Akzeptanz und Geborgenheit in einer Gemeinschaft, in Freundlichkeit und Zuwendung liegen viel Hoffnung. In dem kleinen Motel in Moclips finden einige der Figuren am Ende zueinander.
Der Roman von Bill Clegg scheut sich nicht vor diesen Emotionen, aber er wird dabei nie rührselig. Er lässt den Leser auf das eigene Leben blicken, die vielen kleinen Dinge, die man immer als selbstverständlich ansieht, die das Glück ausmachen und die doch so zerbrechlich und flüchtig sind.
Bill Clegg stand mit Fast eine Familie 2015 auf der Longlist des National Book Awards. Völlig zu Recht.
Ich danke dem S. Fischer Verlag für das Rezensionsexemplar!
Bill Clegg – Fast eine Familie
Originaltitel „Did you ever have a family“
Aus dem Amerikanischen von Adelheid Zöfel
„Denn das Buch ist eines über eine unendliche Traurigkeit und eines über eine zerbrochene Familie.“ Das klingt nach einem Roman genau für mich. Ich liebe Familienromane. Und die von amerikanischen Autoren gefallen mir irgendwie fast immer. Kürzlich habe ich von Elisabeth Graver „Die Sommer der Porter“ beendet. Den kann ich auch nur sehr empfehlen, falls du ihn nicht kennst.
Danke, die Porters habe ich auch mit großer Begeisterung gelesen. Dann könnte dir „Fast eine Familie“ auch gefallen. Auch wenn es ganz anders ist, aber der Grundton ähnlich.