Bereits ein Jahr nachdem Paul Auster seine autobiografischen Aufzeichnungen „Winterjournal“ veröffentlicht hatte, erschien der „Bericht aus dem Inneren“.
Da war wohl etwas noch nicht zu Ende erzählt, da wollten Dinge, Erinnerungen, Erkenntnisse niedergeschrieben werden, für die zuvor kein Raum war oder die dem Autor nach der Veröffentlichung noch auf der Seele lagen. So wurde der Bericht quasi zu einem Zwillingsbuch des Journals. Sollte in jenem ein „Katalog der Sinnesdaten“ erstellt werden, folgte nun ein Buch, das sich die Bewusstwerdung des Autors, seine Entwicklung vom vorbewussten Wahrnehmen des kleinen Kindes zum die Welt erfassenden Erwachsenen zum Thema nehmen mochte. Also eine Reise ins Innere.
„Wer warst du, kleiner Mann?“ fragt sich Paul Auster. Dieser Annäherung an das Kind, das er einst gewesen, dessen Schritte hin zu einer einzigartigen Identität, widmet er den ersten Teil des Buches. Wann wurde er sich zum Beispiel das erste Mal bewusst, Jude zu sein, also anders, als die meisten seiner Altersgenossen? Wann, dass er Amerikaner ist? Wie entdeckte er, dass die Ehe seiner Eltern eine zutiefst unglückliche war? Wann entdeckte er seine Liebe zur Sprache, zu Büchern? Und durch wen? Dieser Expedition in die frühe Kindheit in den Vorstädten von Newark, die ähnlich wie im Vorgängerband nicht chronologisch und geordnet, sondern assoziativ und sprunghaft erfolgt, folgt die Leserin gern. Auch wenn die andere Gewichtung als beim Vorgängerband, die auf das „Innere“, nicht sehr deutlich wird und sich viele Passagen der beiden Bücher doch sehr ähneln.
Dann erfolgt ein Bruch. Der Autor ist zehn oder elf Jahre alt. „Zwei Schläge auf den Kopf“. Die Schläge, die da gemeint sind, sind zwei Kinofilme, die Auster ungefähr zu diesem Zeitpunkt sieht, und die ihn erschüttern und anscheinend nachhaltig prägen. Das ist einmal „Die unglaubliche Geschichte des Mister C.“ (The incredible shrinking man), die von einem Mann erzählt, der nach Kontakt mit einer seltsamen Wolke unaufhörlich kleiner wird, bis er schließlich Staubkorngröße erreicht. Der andere ist „Ich bin ein entflohener Kettensträfling“ (I Am a Fugitive from a Chain Gang), in dem ein unbescholtener Mann versehentlich in ein Verbrechen hineingezogen wird und schließlich in einem Strafgefangenenlager endet – eine bittere Anklage der in den dreißiger Jahren noch üblichen Praktiken in den Südstaaten. Im Rückblick Austers beides Filme, die das Vertrauen des Kindes in die Welt nachhaltig erschütterten. Paul Auster ist offensichtlich ein passionierter Filmfan. Bereits in „Winterjournal“ erzählte er einen Film nach. Das gelingt ihm auch hier sehr gekonnt, spannend, bildlich. Dennoch sind diese Passagen, schon allein ihrer Länge wegen, diejenigen, die sich am uninteressantesten lesen. Der Erkenntnisgewinn für den Leser bleibt, zumindest mir, weitgehend verborgen.
Nach diesem Abschnitt folgt ein dritter, deutlich abgehobener Teil. Hier wird dem Autor durch eine unerwartete Fügung (seine Ex-Frau, die Schriftstellerin Lydia Davis übereignet ihre gesamten Schriften, darunter auch etliche Briefe Austers einer Stiftung und überlässt sie ihm zur Prüfung) Einblick in sein jüngeres Selbst gegeben. Zahlreiche Passagen dieser Briefe des zwanzig bis dreißigjährigen werden lediglich zitiert, der Verfasser kommentiert nur knapp.
Auch dieser Abschnitt kann nicht überzeugen. Vieles, zum Beispiel die Aufenthalte in Frankreich und auch die schwierige Beziehung zu Davis wurde bereits im Journal thematisiert, und das auf deutlich mehr berührende Art und Weise. Mag es für Auster selbst faszinierend gewesen sein, so plötzlich und unverhofft mit dem jungen Mann, der er einmal war und der ihm jetzt wie ein Fremder erscheint, konfrontiert zu werden, so vermag er es nicht wirklich, auch die Leserin dafür zu interessieren.
In einem vierten Teil, und das ist sehr schön und originell gemacht, folgen Fotos, die sich mit dem Erzählten auseinandersetzen.
Insgesamt gesehen, enttäuscht der „Bericht aus dem Inneren“ aber, besonders wenn er mit dem wirklich grandiosen „Winterjournal“ verglichen wird. Stilistisch gewohnt brillant, inhaltlich aber nur im ersten Teil wirklich überzeugend.
Paul Auster – Bericht aus dem Inneren
übersetzt von Werner Schmitz
Rowohlt September 2014, gebunden, 368 Seiten, 19,95 €
Bild: ManhattanView in Newark by Paul Sableman on Flickr (CC BY 2.0)
Danke für die Kritik, dann lese ich lieber das Winterjournal 😉
Das hat zumindest mir sehr viel besser gefallen. Schlecht ist natürlich auch der Bericht nicht! Viele Grüße, Petra