Der Roman von Anna Kim „Die große Heimkehr“, unter diesem Schlagwort warb die Demokratische Volksrepublik Korea, also Nordkorea, in den Fünfziger und Sechziger Jahren massiv und nicht immer ohne Zwang für die Rückkehr von Exilkoreanern. Besonders an den wohlhabenden unter ihnen und den gut ausgebildeten war man interessiert, mussten doch erstere ihr Vermögen abgeben und konnte man doch letztere für den wirtschaftlichen Aufschwung gut gebrauchen. Wenn man aber eines aus Anna Kims Roman lernt, dann, dass in der wechsel- und auch oft leidvollen Geschichte Koreas wenig Verlass war auf das, was die „Oberen“ ihrem Volk versprachen, sei es im Kaiserreich oder der Republik, sei es im Norden oder Süden. Selten stand das Wohl der Bevölkerung im Vordergrund, meist war sie nur Verschiebemasse für die Interessen der unterschiedlichen Herrschenden.
Das war so im völlig abgeschotteten chinesischen Protektorat bis 1875, das blieb so im nach dem japanischen Sieg über China 1895 konstituierten Kaiserreich, in der langen japanischen Besatzungszeit seit dem russisch-japanischen Krieg 1905 und änderte sich auch nicht nach der japanischen Niederlage 1945. Immer zerrieben zwischen den unterschiedlichen Interessen ausländischer Mächte, von den „Siegermächten“ Sowjetunion und USA nach der Kapitulation Japans willkürlich entlang des 38. Breitengrad zunächst in zwei Besatzungszonen geteilt, standen sich bald zwei unversöhnliche Staaten gegenüber. Schon immer war Korea und seine Bevölkerung gnadenlos ausgebeutet, vieler Ressourcen und Menschen beraubt worden. Während des Zweiten Weltkriegs gingen Hunderttausende zum Teil freiwillig, meist aber als Zwangsarbeiter aus der „Provinz“ Chōsen hinüber nach Japan. Die Zahl dieser „Zainichi“ stieg zeitweilig auf über zwei Millionen. Die meisten von ihnen kehrten zurück, viele blieben aber auch, vor allem in der Umgebung von Osaka. Zumal ihr Heimatland in Bürgerkrieg und Koreakrieg 1950-1953 verwüstet und stets von auf beiden Seiten äußerst fragwürdigen Systemen regiert wurde.
Die meisten dieser Eckdaten sind bekannt, aber dennoch ist es erschütternd zu lesen, wie sehr Korea stets Spielball fremder Mächte war, wie rigide jahrhundertelang die Bevölkerung unterdrückt, belogen und mit Propaganda überschüttet wurde, wie Korruption, Denunziation, Terror und Gewalt herrsch(t)en, sei es unter der japanischen „Gedankenpolizei“, den südkoreanischen Autokraten Syngman Rhee und Park Chung-hee oder dem „Großen Führer“ Kim Il Sung im kommunistischen Norden. Der Leser erfährt, wie die koreanische Bevölkerung immer mehr in ideologische Grabenkämpfe verstrickt wurde, schließlich jedes Vertrauen in Institutionen aber auch die Mitmenschen verlor, in Angst und Desillusionierung versank. Es war (und ist, man denke an die aktuelle Situation zwischen Nordkorea und Malaysia) auch eine Zeit der Agenten, Spitzel, Denunziationen.
Es ist klar, dass Anna Kim, der an einer literarischen Aufarbeitung dieser jüngeren Geschichte Koreas gelegen ist, in Die große Heimkehr einiges an Erklärungsarbeit zu leisten hat. Kaum verwunderlich ist es daher auch, dass ihr Roman längere Passagen mit historischen Ausflügen voller recherchierter Fakten enthält, die oft ins Essayistische rutschen oder einer Reportage gleichen. Sie tut das allerdings recht geschickt und schafft trotzdem einen spannenden, wenn auch ein wenig fordernden, einen atmosphärischen, wenn auch komplexen Roman.
Ihr gelingt das dadurch, dass sie das Erzählte in eine einfache Rahmenhandlung verpackt. Die junge Hanna, als Kleinkind von Südkorea aus von einer deutschen Familie adoptiert, ist auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern, als sie in Seoul den 78 jährigen Yunho Kang kennenlernt. Sie soll ihm einen Brief aus Amerika übersetzen, der ihn vom Tod einer gewissen Eve Lewis in einem Altenheim in Richmond, Virginia unterrichtet. Für Yunho eine Reise in die Vergangenheit, von der er der jungen Fremden erzählt. Es ist eine komplizierte Dreiecksgeschichte aus den Jahren 1959/60, in denen sich Yunho und sein Kindheitsfreund Mino, der sich nun Johnny nennt, nach langen Jahren wiederbegegnen. Sie lebten einst zusammen im südlichen Nonsan, waren fast wie Brüder, aber die politischen Ereignisse trieben den Direktorensohn Mino und den der Haushälterin in unterschiedliche Lager. Nun treffen sie wieder aufeinander und Yunho verliebt sich in Johnnys Freundin, die mysteriöse Eve Moon, Tanzgirl in einem Nachtclub und auch sonst recht zwielichtig. Nachdem Johnny eines Nachts im Beisein Yunhos und betrunken ein Mitglied der paramilitärischen, regierungsnahen Nord-West-Jugend getötet hat, müssen beide nach Japan fliehen und dort untertauchen. Eve Moon begleitet sie. Die wahren Umstände dieser Flucht werden sich erst Jahre später offenbaren. Die Geschichte um Liebe, Freundschaft und Verrat, die in die politischen Ereignisse eingebettet ist, entwickelt sich zunehmend in eine Agenten- und Spionagegeschichte. Hinzu kommt der Fall eines verschwundenen Mädchens, das sich gegen den Willen seiner Eltern der „Großen Heimkehr“ anschließen wollte und in den die Freunde verstrickt werden.
Diese Mischung aus spannender, berührender Erzählung und erhellender Geschichtsstunde über ein in der Literatur eher schwach vertretenes Thema ist der 1977 geborenen österreichischen Autorin mit koreanischen Wurzeln Anna Kim in Die große Heimkehr ausgesprochen gut gelungen. Ein wenig Interesse am Thema ist allerdings Voraussetzung, um auch die theoretischen Ausführungen zu genießen. Hin und wieder erlaubt sich die Autorin Statements wie
„Die Herrschaft der Masse beginnt stets mit der Vernichtung des Einzelnen.“
oder
„Wir unterdessen äußern laut unsere Empörung über den Schurkenstaat und sind doch, mehr als zuvor, auf Sklavenarbeit wie diese angewiesen, wenn wir unseren Lebensstandard halten wollen.“
Da verwischt ein wenig, wer da eigentlich spricht – Yunho, Hanna, die Autorin? Wie sie auch zeitweise ihre Figuren ein wenig als Sprachrohre benutzt, wie beispielsweise die stramm kommunistisch orientierte Lehrerin Ayumi, die unter Japans Flüchtlingskindern Kandidaten für die „Große Heimkehr“ rekrutiert. Das stört aber nicht weiter, hat man einmal den aufklärerischen Impetus des Romans akzeptiert.
Schön ist, dass Anna Kim gegen Ende das Erzählen und die Erinnerung selbst in Frage stellt.
„Aber vielleicht übertreibe, vielleicht lüge ich? Glauben Sie mir nicht alles, was ich erzähle.“
und später
„Letztlich gehört Geschichte demjenigen, der sich Gehör verschafft.“
Bereits 2012 erschien von Anna Kim ebenfalls im Suhrkamp Verlag der Roman „Anatomie einer Nacht“, in dem sie die letzten Stunden von elf Personen einer abgelegenen Region Grönlands schildert, die in dieser einen Nacht Selbstmord begehen. Das Buch ist mir damals nicht aufgefallen, hat aber mein Interesse jetzt geweckt.
Auf Literaturleuchtet findet ihr eine weitere Besprechung
Anna Kim – Die große Heimkehr
Suhrkamp Verlag Januar 2017, gebunden, 558 Seiten,24,00 €
By Nicor (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons