Der diesjährige Preis der Leipziger Buchmesse ging an Natascha Wodin, in meinen Augen völlig zurecht, hat mich doch seit langem kein Buch mehr so durchgerüttelt und aufgewühlt wie „Sie kam aus Mariupol“.
Das Buch kreist um eine große Leerstelle in Wodins Leben – ihre Mutter. 1956, die Autorin war gerade zehn Jahre alt, die kleine Schwester vier, nahm sich diese das Leben, indem sie sich bei Forchheim in den Fluss Regnitz stürzte. Der Vater, ein dem Alkohol und der Gewalt zugeneigter Mann, kam mit den Kindern wohl allein nicht zu Rande. Man weiß es nicht nach Lektüre des Buches, denn das Buch ist keine Autobiografie, die Autorin nimmt sich sehr zurück, erzählt nur sehr am Rande über sich und dann völlig ohne Sentimentalität. Fakt ist (und das kann man in ihrer Biografie nachlesen), dass Natascha Wodin in einem katholischen Mädchenheim groß wurde. Über die Schwester, der das Buch gewidmet ist, erfährt man nichts weiter. Das Buch ist alles andere als eitel, selbstreferentiell oder voyeuristisch. Auch nur durch ihre Biografie erfährt man, dass auch Obdachlosigkeit und eine äußerst schwierige Ehe mit dem Schriftsteller Wolfgang Hilbig zu Wodins Lebensweg gehörten.
Sicher kein einfaches Leben, und es begann auch nicht einfach, 1945 in Fürth. Dorthin sind die Eltern vor den herannahenden russischen Truppen aus Leipzig geflüchtet. Die Familie haust in einem elenden Lagerschuppen einer Fabrik, abhängig vom guten Willen des Fabrikbesitzers und nur bis sie schließlich im gefürchteten Lager für „Displaced Persons“ Valka in Nürnberg landen. Dort sind die Lebensbedingungen nur wenig besser als in den Lagern, die sie schon hinter sich haben. Aber davon weiß die Tochter noch nichts. Und wird es lange nicht wissen.
Denn erstens wird in der Familie Wodin, wie typischerweise in fast allen Familien in der Nachkriegszeit, nicht über die Vergangenheit gesprochen. Zu schmerzlich, zu zerstörerisch. Und zweitens hat Natascha schon als Kind nur einen Wunsch: Raus aus dieser Familie, die für sie zu „einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war“. Von den Mitschülern verachtet und gequält hasst sie schon früh ihre russischen Wurzeln und will mit ihnen nichts zu tun haben. Stattdessen erfindet sie sich eine „Traumfamilie“ mit fürstlichen Wurzeln. Später wird sie immer wieder darüber staunen, wie nah sie ihrer tatsächlichen Herkunft damit war.
Zunächst aber weiß Natascha Wodin tatsächlich fast nichts über ihre Familie und ihre Mutter. Zwei verblichene Fotografien sind das einzige, was ihr von ihr geblieben war. Und ein paar undeutliche Erinnerungen. „Sie kam aus Mariupol.“ Und war Jahrgang 1920.
Vielleicht lag es an der friedlichen Atmosphäre ihres Schreibdomizil am Schaalsee in Mecklenburg-Vorpommern, dass sie doch noch einmal einen Versuch startet und den Namen ihrer Mutter, Jewgenia Jakowlewa Iwatschenko, in eine russische Internetsuchmaschine eintippt. Und zu ihrem großen Erstaunen erhält sie einen Treffer auf einer Seite namens „Azov´s Greeks“, die sich mit den griechisch-stämmigen Bewohnern des Asowschen Meeres befasst. Und noch einmal hat sie Glück und findet dort in dem Ahnenforscher Konstantin einen nahezu besessenen Anwalt ihrer Sache.
Nun wird der Leser Zeuge einer Spurensuche, bei der beharrliches Graben gepaart mit etwas Glück tatsächlich nach und nach Nataschas Familie zutage fördert. Verarmter Aristokratie und großbürgerlicher Kaufmannsfamilie italienischer Abstammung entstammten die Großeltern, deren wohlhabender Lebensstil in den Wirren der russischen Revolution unterging. Sogar noch lebende Verwandte, eine Cousine in Kiew und ein Cousin in Miass werden gefunden und können von Onkel Sergej, einem Opernsänger, und Tante Lidia, einer nach Sibirien verbannten „Abweichlerin“ berichten. Letztere rückt zunehmend in den Fokus, da Wodin deren Memoiren zu lesen bekommt.
Der erste Teil des Buches, der die zunehmend spannende Recherche umfasst, macht nun einem zweiten Teil Platz, der den erschütternden Aufzeichnungen Lidias gewidmet ist. Wodin berichtet von den unglaublich gewaltvollen Tagen der Revolution, den Zeiten der stalinistischen Säuberungen und dem Elend, das für das Volk daraus resultierte. Hunger ist durch die gesamten Schilderungen hindurch stets präsent, auch von der grauenvollsten Art. Die Autorin kann sich noch erinnern, dass die Mutter nie genussvoll essen konnte, sondern immer so, als wäre es ihr letzter Bissen und könnte ihr jeden Augenblick weggenommen werden. Aber auch das Ausmaß der puren Zerstörung erschüttert nachhaltig. Nicht nur das von kulturellen Gütern und Lebensressourcen, sondern natürlich vor allem das von unzähligen Menschenleben. Von Wodins Mutter selbst ist in diesen Aufzeichnungen kaum die Rede, der Altersunterschied zur Schwester war zu groß, die Schwester schon 1933, da war Nataschas Mutter gerade 13 Jahre alt, deportiert. Erwähnt wird nur, dass die Großmutter zu Beginn des Zweiten Weltkriegs auf dem Weg zu Lidia verschwand. Wodins Mutter blieb allein zurück.
Über ihr Leben, auch im nun folgenden dritten Teil, der die Kriegsjahre umfasst, in denen sich die Eltern kennenlernten, heirateten und als Zwangsarbeiter nach Deutschland gingen (ob unter Gewalt oder sogar freiwillig, mit dieser Frage hadert die Autorin), kann Natascha nur Mutmaßungen anstellen. Sie imaginiert sich in ihre Mutter hinein, versucht zu erspüren, wie es hätte sein können, wie sich der harte Lageralltag, als Ostarbeiter kaum über den jüdischen Häftlingen stehend, angefühlt haben könnte. Es ist ein besonderes Anliegen der Autorin, auf dieses Schicksal als Zwangsarbeiter aufmerksam zu machen. Fassungslos steht sie vor der Zahl 42500, der neuerdings geschätzte Anzahl von NS-Lagern in Deutschland und den von Deutschland besetzten Gebieten.
„Unendliche Massen namenloser Menschen, die es nur als Zahlen gibt. Jeder von ihnen ist meine Mutter.“
und
„Die Überlebenden der Konzentrationslager hatten Weltliteratur hervorgebracht, Bücher über den Holocaust füllen Bibliotheken, aber die nicht-jüdischen Zwangsarbeiter, die die Vernichtung durch Arbeit überlebt hatten, schwiegen.“
Erst im nun folgenden vierten Teil, der sich mit der Nachkriegszeit beschäftigt, kann die Autorin auf eigenes Erinnern zurückgreifen und dieses ihren Recherchen, der Rekonstruktion und dem Nachfühlen hinzufügen.
Jewgenia Jakowlewa Iwatschenkos Leben und das ihrer Schwester Lidia ist ein Leben mitten im Grauen des blutrünstigen 20. Jahrhunderts. Es gibt da keine Ruheinseln, keine Erholungsphasen, keine glücklichen Momente, auch wenn es sie irgendwo gegeben haben muss. Der Sturm der Geschichte hat sie zumindest in der Rückschau hinweggefegt. Angesichts dieser Vergangenheit und der ablehnenden, ja feindlichen Haltung, die den Überlebenden, den Geflohenen im Nachkriegsdeutschland entgegenschlug, kann man die Verzweiflung der Mutter, die dann 1956 im Selbstmord mündete, und die gewaltbereite, der Trunksucht zuneigende Art des Vaters, der in diesem Buch nur am Rande vorkommt, zumindest nachfühlen.
Auch wenn die Fakten natürlich bekannt sind, sind solche Bücher wie „Sie kam aus Mariupol“ von Natascha Wodin gerade heute wieder so wichtig, wo wieder Abgrenzung, „Überfremdung“, Homophobie und Hassparolen öffentliche Themen sind und eine zunehmend lässige Haltung gegenüber so Dingen wie Menschenrechte, Toleranz, Völkerverständigung, Rechtsstaatlickeit, Meiungsfreiheit und Humanismus eingenommen wird. Solchen Entwicklungen schreit dieses Buch entgegen: „Nein! Nie wieder!“. Nur Chaos, Zerstörung, unsagbares Leid und unzählige Tode sind aus den Ideologien des 20. Jahrhunderts entstanden. Und niemand konnte sich zuvor vorstellen, wie grundlegend seine Welt dadurch zerstört werden würde. Bücher wie das vorliegende können dazu beitragen, dass man es sich vorzustellen vermag. Und dass Dinge wie Demokratie, Freiheit, Toleranz und Frieden so unbedingt wertzuschätzen sind, wie sie es verdienen. Die große Geschichte herunterbrechen auf einzelne konkrete Schicksale, sie dadurch erfahrbar, erfühlbar machen, das ist Natascha Wodin auf eindrückliche Weise gelungen.
Und nicht zuletzt ist „Sie kam aus Mariupol“ von Natascha Wodin auch ein ganz großartiges Buch.
Ich danke dem Rowohlt Verlag für das Rezensionsexemplar!
Natascha Wodin – Sie kam aus Mariupol
Rowohlt Verlag Februar 2017, gebunden, 368 Seiten, € 19,95
Danke, Du sprichst mir mir aus dem Herzen: Bücher wie dieses sind wichtiger denn je!
Es liegt schon hier bereit. Ich freue mich sehr auf diese Lektüre. Es ist schön zu lesen, dass es einem zunächst „ungewollten“ Kind gelingt, in späten Jahren ein solches Buch zu schreiben und immerhin den Buchpreis in Leipzig zu gewinnen. Leider fällt die Lesung mit ihr im Brechtforum hier in Berlin aus. Ich hoffe auf einen Nachholtermin. ICh kann überigens „Nachtgeschwister“ nur empfehlen, in dem es um die Beziehung zu wolfgang Hilbig geht.
Viele Grüße!
Ich kannte bisher noch nichts von Natascha Wodin, Danke für die Empfehlung von „Nachtgeschwister“. Ja, es ist beeindruckend, dass Wodin ihre Mutter an keiner Stelle anklagt oder in Selbstmitleid verfällt (sie aber auch nicht verteidigt). Es sind die schrecklichen Umstände, die den Menschen oft nur sehr begrenzte Handlungsspielräume lassen. Herzliche Grüße zurück!