Ich möchte hier auf meinem Blog abseits der aktuellen Rezensionen und Literaturerfahrungen hin und wieder, aus gegebenem Anlass oder aber weil mir ein Buch gerade des Erinnerns wert erscheint, auch ältere Rezensionen von mir versammeln, die vor meiner Bloggerzeit entstanden sind. Der heutige Anlass, der mir die Idee dazu gab, ist der 40. Jahrestag des 30. April 1977, jenem Tag, an dem sich zum ersten Mal besorgte Mütter und Großmütter auf der Plaza de Mayo, gegenüber dem Präsidentenpalast in Buenos Aires, versammelten – die Madres y abuelas de Plaza Mayo.
Seit dem 24. März 1976 an dem die amtierende Präsidentin Isabel Peron durch einen Militärputsch entmachtet wurde, regierte ein rechtsgerichtetes, autoritäres und ultranationalistisches Militärregime unter Jorge Vidal. Erbitterte Säuberungsaktionen gegen „Subversive“ gehörten von Anfang an zu seinen Methoden. Unzählige, vor allem junge Menschen unterschiedlichster Herkunft und Motivation verschwanden während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 auf unerklärliche Weise im ganzen Land. Zunächst protestierten die Madres y abuelas de Plaza Mayo jeden Donnerstag, auch unter Gefahr für das eigene Leben, dafür, dass ihre Söhne und Töchter wieder frei kamen. Später, als deutlich wurde, das schätzungsweise 30.000 Menschen nicht nur verschwanden, sondern gefoltert und meistenteils getötet wurden, kämpften und kämpfen sie für die Bestrafung der Verantwortlichen, die bis 2003 durch ein Amnestiegesetz geschützt waren. Auch kämpfen die „abuelas“, die Großmütter, um die Enkelkinder, die den schwangeren Verhafteten direkt nach der Geburt entrissen und meist in Familien von hochrangigen Militärs zur Pflege oder Adoption gegeben wurden. Ihr „Markenzeichen“ ist das weiße Kopftuch, das sie tragen.
Vielleicht kennt der ein oder andere Constantin Costa-Gavras Film „Vermisst“, in dem Jack Lemmon als amerikanischer Vater seine auf diese Weise verschwundene Tochter sucht. 1983 erhielt er den Drehbuch Oscar.
2010 wurde ich durch eine Ausstellung in der Paulskirche anlässlich des Gastlandauftritts Argentiniens auf der Frankfurter Buchmesse auf dieses Thema erneut aufmerksam. Die Fotos Gustavo Germanos arbeiten alle mit einem so einfachen wie genialen Motiv. Sie stellen Familienfotos einander gegenüber. Aufnahmen aus den Siebziger Jahren und aktuelle Fotos. Es sind die gleichen Menschen, auf den letzteren natürlich gealtert, aber noch etwas ist anders, auch wenn sie möglichst detailgetreu nachgestellt sind: es fehlen Personen. Es sind jene „Desparencidos“, die Verschwundenen des Militärregimes. Die Ausstellung hat mich genauso wie viele Argentinier zutiefst erschüttert. Diese „Ausencias“ (Abwesenheiten), so der Titel der Ausstellung, wurden derart greifbar und spürbar, dass es den Betrachter wirklich nachhaltig berührte.
Gustavo Germano verlor selbst seinen ältesten Bruder.
2013 erschien dann „Perla“ von Carolina de Robertis, in dem es noch einmal um diese Zeit ging, hier wurde die Tochter eines ehemaligen Militärs mit der grausigen Vergangenheit ihres Vaters konfrontiert. Kein durchgehend gelungener Roman, aber auch er hat mich wieder nachhaltig erschüttert. Zu lesen, wie die vorwiegend jungen Menschen, voller Leben und Ideale gefoltert, ermordet und dann deren Körper zum großen Teil aus Flugzeugen weit über dem Meer abgeworfen wurden, damit die auch wirklich „verschwunden“ bleiben – das zu lesen, ist wirklich bestürzend.
Den Frauen, die auch nach 40 Jahren für die Erinnerung an und, sollte so etwas möglich sein, die Wiedergutmachung für diese Unrechtstaten demonstrieren, entgegen all denen, die so gerne vergessen wollten und wollen, alle mittlerweile hochbetagt, gehört meine Hochachtung.
Titelbild: Madres de Plaza Mayo by Valerie Hinojosa (CC BY-SA 2.0) on Flickr
Ein sehr berührendes Buch zu dem Thema ist auch „Kamchatka“ von Marcelo Figueras, erzählt aus der Perspektive eines Kindes. Seine Eltern sind Oppositionelle. Die ganze Familie muss auf der Flucht vor Verfolgung durch das Militärregime untertauchen, eine neue Identität annehmen. Der Sohn erlebt das als eine Art Abenteuerspiel, doch die Bedrohung ist natürlich immer spürbar. Das Buch entstand parallel zum gleichnamigen, Oscar-prämierten Film.
Ja, Kamtschatka ist ein großartiges Buch. Literarisch viel stärker als „Perla“, auf indirektere Weise berührend. Ich habe das Buch beinahe erwähnen wollen, da ich aber dazu keine Rezension habe, es dann doch gelassen. Aber gut, dass du hier noch darauf hinweist. Viele Grüße!
Die Idee mit den Fotos ist so simpel wie beeindruckend. Toller Beitrag. Ein Buch über diese Thematik habe ich noch nicht gelesen, aber letztens habe ich den von dir erwähnten Film „Vermisst“ von Costas-Gavras gesehen.