Vor einigen Jahren, im März 2012, wurde die Welt des schwedischen Musikers und Poeten Tom Malmquist von Grund auf erschüttert. Innerhalb kürzester Zeit verlor er seine Lebensgefährtin Karin. Diese war hochschwanger, als sie plötzlich unter grippeartigen Symptomen zu leiden begann und Anzeichen einer Lungenentzündung entwickelte. Nach einigen Tagen verschlechterte sich ihr Zustand so dramatisch, dass sie als Notfall ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Die schockierende Diagnose lautete: Akute myeloische Leukämie. In seinem 2015 im Original erschienenen autobiografischen Roman In jedem Augenblick unseres Lebens wirft Tom Malmquist den Leser genauso unvermittelt ins Geschehen, wie er sich damals selbst hineingeworfen gefühlt haben muss.
„Der Oberarzt tritt den Kipphebel an Karins Patientenbett fest.“
lautet der erste lapidare Satz.
Mit ihm beginnt eine Odyssee des Schreckens durch die Flure des Karolinska Krankenhauses in Stockholm. Nicht nur befindet sich Karin in zunehmend ernster Verfassung, drohen ihre gesamten Organe zu versagen, sondern Tom muss sich gleichzeitig auch um die kleine, in dieser 33. Schwangerschaftswoche durch einen Notkaiserschnitt auf die Welt gekommene Tochter Livia auf der Station der Neonatologie kümmern. Zwischen beiden Abteilungen pendelt er hin und her, wird gleichzeitig mit dem Drama des Kampfes der Ärzte um das verlöschende Leben der Mutter und der hoffnungsvollen, positiven Entwicklung auf der Station der Neugeborenen konfrontiert. Ein Gefühlskarussell. Die eigene Verzweiflung und Hilflosigkeit kollidiert mit der pragmatischen, wenn auch freundlichen, so doch kühlen Routine des Krankenhausalltags.
Tom rettet sich in ein nüchternes Funktionieren, notiert alle ärztlichen Äußerungen akribisch auf einem Notizblock, scheut sich nicht, medizinisches Personal wie Familienangehörige durch eigenwillige Reaktionen vor den Kopf zu stoßen. Tom ist kein einfacher, kein glatter Charakter. Genauso wenig wie Karin und ihrer beider Liebesbeziehung. Tom Malmquist macht daraus kein Geheimnis, er beschönigt nichts, schont weder sich noch Karin oder andere Familienmitglieder. Das macht den Text so lebensnah, die Figuren so glaubhaft.
Der erste atemlose, gehetzte, auf nüchterne Beobachtung konzentrierte Abschnitt des Buches endet auf Seite 92.
„Es wird still im Raum, nichts verursacht mehr Geräusche, Nygren schaut auf die Uhr und fügt hinzu: Patientin Exitus um 06.31.“
Insgesamt ist das Buch in fünf Abschnitte geteilt, die nicht gerade überdeutlich lediglich durch eine freibleibende Seite voneinander getrennt sind, und die sich jeweils um einen der fünf Sinne herum gruppieren. Diese Absicht des Autors ist allerdings nicht leicht erkennbar, ich erfuhr sie in einem Gespräch des Autors auf der Leipziger Buchmesse. Der erste Abschnitt ist allerdings noch relativ eindeutig dem Geruchssinn zugeordnet. Um Mutter und Kind in den ersten Stunden nach der Geburt zu verbinden, trägt Tom eine kleine Kuscheldecke von einer zu anderen. Ein rührendes, hilfloses Unterfangen.
Nach Karins Tod wird der Text ein wenig ruhiger, bewahrt aber seinen eigenwilligen Stil. Der Autor schreibt nicht gefällig, schon gar nicht pathetisch. Seine Emotionalität ist verhalten, schon gar nicht geht er damit hausieren. Er springt in den Zeiten, erzählt von der Begegnung von Tom und Karin, ihrer Liebe, ihrem Zusammenleben. Er berichtet vom nicht einfachen, aber auch zutiefst beglückenden Leben mit einem Säugling. Er schildert die behördlichen Hürden, die er nehmen muss, waren doch er und Karin nicht verheiratet und blieb ihnen ja auch im Vorfeld keine Zeit, entsprechende Regelungen zu treffen. Er erzählt von den vielen praktischen Dingen, die geregelt werden müssen. Und er schaut in die Zukunft seiner Tochter.
Das ist nicht wirklich „süffig“ zu lesen, keine „zu Herzen gehende“ Lektüre im klassischen Sinn. Mich hat das Buch aber wohl gerade deshalb unglaublich angerührt, zeigt es doch keine „Helden des Alltags“, wie wir sie in so vielen thematisch ähnlichen Texten und Filmen präsentiert bekommen, sondern überforderte, oft hilflose, manchmal gar unangenehm reagierende Menschen, die einfach versuchen müssen, mit den schrecklichen Dingen umzugehen, mit denen sie konfrontiert sind.
Denn „In jedem Augenblick leben wir“, so die richtige, wörtliche Übersetzung des schwedischen Titel, die meiner Meinung nach viel besser passt als das doch etwas melodramatisch anmutende „In jedem Augenblick unseres Lebens“. Das Leben pausiert nicht, auch nicht in den dunkelsten Stunden. Und Tom hat nun die Verantwortung zu tragen für dieses kleine, neue Leben. Ihr, der kleinen Tochter Livia, ist dieses Buch auch zugedacht. Für sie hat Tom Malmquist In jedem Augenblick unseres Lebens in erster Linie geschrieben.
Wenn es sicher auch für den Autor selbst befreiend gewesen sein mag, über dieses unglaublich dunkle Jahr seines Lebens zu berichten. Es ist das gleiche Jahr, in dem sein Vater kurz darauf seinem langen Krebsleiden erliegt. Auch diesem Tod und dem nicht immer ganz unproblematischen Verhältnis der beiden sind Abschnitte des Buches gewidmet. Der Vater, Thomas Malmquist, war ein in Schweden sehr bekannter Sportredakteur der Zeitung Expressen, sehr einflussreich, sehr erfolgreich, nach Aufdeckung eines Wettskandals auch sehr umstritten – und Alkoholiker. Enthüllungen über ihn haben sicher auch etwas zum überwältigenden Erfolg des Buches in Schweden beigetragen.
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Diesen „Promifaktor“ hat es aber in keiner Weise nötig. „In jedem Augenblick leben wir“ – das ist ein Zeugnis davon, wie schwer das sein kann, ungeschönt, direkt, nachdenklich, schnörkellos, und es ist ein so unaufdringlicher wie eindrücklicher Appell dazu, nie zu vergessen, wie kostbar und zerbrechlich es ist, unser Leben.
Beitragsbild Angel of Death and Child by x1klima (CC BY-ND 2.0) on Flickr
Tom Malmquist – In jedem Augenblick unseres Lebens
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek (Orig.: I varje ögonblick är vi fortfarande vid liv)
Klett-Cotta März 2017, gebunden, 301 Seiten, €20,00
Ach, das ist ja interessant, ich bin über den Umweg einer engl. Besprechung auf das Buch aufmerksam geworden. Und es wird in den nächsten Tagen hier einziehen. LG, Anna
Bin auf deine Meinung gespannt. Eine gute Lesezeit damit wünsche ich dir! LG, Petra
Ich lese es gerade, bin also mittendrin, kann aber Deine Eindrücke teilen und bestätigen. Mich nimmt das Buch ziemlich mit, es konfrontiert einen ja auch mit der Frage, wie es einem selbst wohl in dieser Lage ginge, wie es geht, weiterzumachen.
Vor allem der erste Abschnitt – der ja eigentlich so viele medizinische Fakten bringt, die einen schon beim Lesen überfordern – verdeutlicht, in welche existentielle Situation der Autor da geraten ist, auch die Hilflosigkeit, wenn man da zusehen muss. Ja, und wie Du schreibst, auch das Gehetzte kommt direkt an …
Ohne Deine Informationen hätte ich jetzt aber auch das Konzept, sich an den Sinnen zu orientieren, überlesen oder nicht verstanden – da muss ich direkt nochmals zurückblättern.
Eine wirklich tolle Rezensions, vor allem dann auch Deine letzten Sätze!
LG Birgit
Liebe Birgit, selbst mit dieser Information, die ich beim Lesen natürlich auch vergessen hatte, erschließt sich das Prinzip auf Anhieb höchstens bei dem Geruch. Auch ich habe das Gefühl, nochmal blättern zu müssen. Aber, wenn du gerade dabei bist und dir etwas auffällt, ich wäre über Hinweise dankbar 🙂 Liebe Grüße!
Wird gemacht!