Colum McCann – Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist?

Drei Erzählungen und eine Novelle des aus Irland stammenden, schon lange in New York lebenden Autors Colum McCann sind in dem nach einer der kürzeren Geschichten benannten Band „Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist?“ veröffentlicht.

Bei einer solchen Sammlung kann es sich immer entweder um eine recht beliebige Zusammenstellung von Texten handeln, die in einer bestimmten  Zeitspanne entstanden sind, oder aber auch um inhaltlich auf die eine oder andere Weise miteinander verknüpfte Stories. Diese Verflechtung kann so weit reichen, dass eine Art Roman daraus entsteht. Das ist bei den Geschichten in diesem Band nicht der Fall, sie stehen inhaltlich für sich selbst. Und doch ergeben sie, ähnlich wie bei Konzeptalben in der Musik, eine Art Einheit. Auch wenn die Erzählungen sich in ihrer Länge, in Inhalt und Erzählperspektive kaum gleichen, sie weder Personen noch Ort oder Zeit gemeinsam haben, so ist es doch eine Unterströmung, eine Stimmung, ein Gefühl, das sie alle verbindet.

Es ist ein Gefühl der Unsicherheit und der Vereinzelung, das das gesamte Buch durchzieht. Die Personen befinden sich in Lebenssituationen, die sie nachhaltig erschüttern, aus ihrer Lebensbahn werfen, mühsam errichtete Sicherheiten gründlich durchrütteln und sie oft mit einer Form der Gewalt und des Verlustes konfrontieren, die eher anonym und ungreifbar daherkommt.

June 24 by Jessica Lucia (CC BY-NC-ND 2.0) on Flickr

Das geht nicht immer so gut aus wie in „Sh´kol“, in der eine Frau verzweifelt nach ihrem verschwundenen Adoptivsohn sucht. Dieser ist geistig retardiert und vermutlich frühmorgens zum Schwimmen ins Meer aufgebrochen. Eine großangelegte Suchaktion bringt tagelang kein Ergebnis, bis schließlich der Junge von selbst wieder auftaucht. Was genau mit ihm geschehen ist, werden wir nicht erfahren, die tiefe Erschütterung seiner Adoptivmutter dafür greifbar miterleben.

In der Geschichte „Frieden“ ist es eine ältere Nonne, deren Leben durch eine Fernsehnachricht durcheinander gebracht wird. In einer Reportage über eine Friedenskonferenz in London erkennt sie unter den Aktivisten einen Mann, der sie einst aus ihrer Missionsarbeit in Kolumbien entführte und wochenlang gefangen hielt, quälte und vergewaltigte. Die Narben dieser Zeit trägt sie noch sichtbar auf ihren Brüsten, aber auch tief in ihrem Inneren. Eigentlich zur Erholung in einem Kloster für Schwestern im Ruhestand an der amerikanischen Ostküste lebend, macht sie sich auf nach England, um ihrem einstigen Peiniger noch einmal gegenüber zu treten.

Schwab house by Oliver Siodmak (CC BY-NC-ND 2.0) on Flickr

Am massivsten tritt die unerwartete Gewalt in das Leben des Protagonisten der ersten und längsten Geschichte, der Novelle „Dreizehn Sichtweisen“. In ihr trifft sich der alte Richter Mendelssohn mit seinem Sohn an einem schneereichen Tag in seinem Stammrestaurant. Es ist beeindruckend, wie McCann diesen alten Menschen mit all seinen körperlichen Beeinträchtigungen, seinen Verlusten und Ängsten, aber auch seiner Kraft und seinem Lebenswillen beschreibt und ganz langsam entwickelt. Ich habe selten eine so beeindruckende und authentische Beschreibung dieses Lebensalters auf so engem Raum gelesen. Der Sohn steckt in seinen eigenen Problemen, hat wenig Zeit und Sinn für diese Begegnung, bricht sie verfrüht ab. Er weiß nicht, dass er seinen Vater zum letzten Mal sehen wird. Dieser wird nämlich direkt vor dem Lokal Opfer eines Gewaltverbrechens. Die polizeilichen Ermittlungen dazu, die sich hauptsächlich auf die Bilder diverser Überwachungskameras stützen, werden kunstvoll zwischen die Schilderungen aus der Perspektive Mendelsohns geschoben. Eine spannende Verflechtung von Zeit- und Erzählebenen.

Diese Novelle ist sicher nicht nur wegen ihres Umfangs das Zentrum dieser Sammlung. Kurz nach ihrer Entstehung im Jahr 2014 wurde Colum McCann selbst Opfer eines Gewaltverbrechens und auf der Straße niedergeschlagen. Ein traumatisches Erlebnis für den Autor.

„Manchmal kommt es mir so vor, als würden wir unsere Zukunft beschreiben, während wir zu anderen Zeiten nur zurückschauen können. Letztlich aber ist jedes Wort autobiographisch, vielleicht am meisten, wenn wir das Autobiographische zu vermeiden suchen.“

Neben diesen Erfahrungen des Gefährdetseins, der Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz, der Unsicherheit von Lebensentwürfen und der Allgegenwart von drohenden Verlusten ist das Schreiben, das Verfassen von Geschichten ein wiederkehrendes Motiv in den Erzählungen dieses Bandes. Gleich zu Beginn vergleicht der Autor die Arbeit der Polizei mit der des Dichters: „Es ist wie die Suche nach dem rechten Wort, das, an der rechten Stelle, einem Gedicht die rechte Bedeutung gibt“ und

„Dichter und Polizisten wissen, dass die Wahrheit Mühe macht: Sie stellt sich nicht zufällig ein, sondern muss wie mit Meißeln herausgearbeitet werden, ein Produkt von Zeit, Distanz und Arbeit.“

Am deutlichsten wird dies in der titelgebenden Geschichte, in der eine Frau in der Silvesternacht mit ihrer Lebensgefährtin telefonieren möchte. Diese ist als Soldatin auf Wachposten in einsamem afghanischem Gebirge.

Colum McCann - Wie spät ist es jetzt dort wo du bist

Das Besondere an dieser mit 13 Seiten kürzesten Geschichte ist, dass sie als Ideenskizze für eine geplante Kurzgeschichte des Autors konstruiert wird. Er spielt mit den Ideen und der Konstruktion. Es ist mehr eine Geschichte über das Verfassen einer Geschichte als diese selbst. Und doch schafft McCann Atmosphäre und lässt die explizit fiktiven Personen nah

herankommen. Das ist eine wahre Kunst. Die Bedrohlichkeit der ganzen Situation fasst er in sprachliche Mittel, so sehen zum Beispiel die Sterne der afghanischen Nacht „aus wie Einschusslöcher“.

In seiner klaren, knappen Erzählweise hat Colum McCann mit „Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist“ auch in der kurzen Form ein beeindruckendes Werk geschaffen.

Beitragsbild World Time by  faungg’s photos (CC BY-ND 2.0) on Flickr

Ich danke sehr für das Rezensionsexemplar!

Eine sehr schöne, ausführliche Besprechung findet ihr auf dem Grauen Sofa.

 

Colum McCann – Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist?

übersetzt von: Dirk van Gunsteren

Rowohlt Mai 2017, gebunden, 256 Seiten, € 19,95

6 Gedanken zu „Colum McCann – Wie spät ist es jetzt dort, wo du bist?

  1. Pingback: Lektüre Juni 2017 – LiteraturReich
  2. Ich habe den McCanns Erzählband auch gerade beendet und bin beeindruckt von den Geschichten, so wie du es auch hier beschreibst. Jede einzelne der Geschichten hat nicht nur einen besoderen Inhalt, nämlich diese „erschütternde Lebenssiuation“ wie du schreibst, sondern ist auch mit Blick auf die Form ganz besonders. Und dann entstehen eben solche besonderen Erzählsituationen wie in der Novelle um Mendelssohn, die auf so knappem Raum so komplex ist, so urkomisch in manchen seiner Beobachtungen und Beurteilungen, so nachdenklich und traurig, wenn Mendelssohn auf sein Leben zurückblickt, so kritisch, denn es wird ja auch die Komplettüberwachung per Kamera thematisiert, die doch nicht klappt, sodass der Täter nicht gefasst wird. Jede der Geschichten ist wirklich sehr, sehr beeindruckend erzählt.
    Viele Grüße, Claudia

    1. Liebe Claudia, schön, dass dir das buch auch so gut gefallen hat. bisher wurde es ja noch kaum besprochen. Was mich auch sehr beeindruckt hat, war die Entwicklung des alten Mr. Mendelssohn. So wie er am Anfang eingeführt wird, war ich vollkommen erstaunt, in welch doch sehr vorgerücktem Stadium des körperlichen Verfalls er sich befindet. Toll gemacht! Liebe Grüße, Petra

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