José Eduardo Agualusa ist ein angolanischer Schriftsteller portugiesischer Abstammung, der 1960 in Huambo (Angola) geboren wurde und in Angola, Portugal und Brasilien lebt. Bisher wurden vier seiner sehr erfolgreichen Romane auch ins Deutsche übersetzt (im A1- Verlag bzw. bei dtv erschienen). Mit der nun im C.H. Beck Verlag erschienene „Allgemeine Theorie des Vergessens“ stand José Eduardo Agualusa 2016 auf der Shortlist des Man Booker International Prize (den dann Han Kang mit „Die Vegetarierin“ gewann).
Es ist eine äußerst ungewöhnliche Geschichte, die Agualusa hier erzählt. Und sie soll auf wahren Begebenheiten beruhen.
1975 begann, noch kurz vor der Unabhängigkeit der portugiesischen Kolonie, der angolanische Bürgerkrieg, der mit einigen Unterbrechungen bis 2002 andauerte. Die rivalisierenden Gruppen wollten sich schon vor den anstehenden Wahlen eine Machtposition sichern. Immer mehr entwickelte sich der blutige Konflikt aber zu einem Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Südafrika auf der einen und dem Ostblock und Kuba auf der anderen Seite. Auch Nachbarländer wie Südafrika versuchten, ihre Interessen im Land mit Waffengewalt durchzusetzen.
1975 ist auch das Schicksalsjahr für die Protagonistin Ludo(vica) Fernandes Mano in „Eine Allgemeine Theorie des Vergessens“.
Mit ihrer Schwester Odete, die einen vermögenden Diamantenhändler geheiratet hat, siedelte diese einst von Portugal nach Luanda um. Die Eingewöhnung fiel besonders Ludo sehr schwer. Da sie aber nach einem traumatischen Jugenderlebnis, von dem der Leser erst im Laufe des Romans erfahren wird, von der Schwester abhängig lebt, gab es für sie keine Alternative dazu.
Zurückgezogen in einem komfortablen Haus, mit einer heftigen Agoraphobie ausgestattet, lebt sie nun ganz zurückgezogen im Dienste von Odete und ihrem Mann Orlando. Als diese eines Tages plötzlich verschwinden und kurz darauf ein Überfall auf die Wohnung stattfindet, bei dem Ludo einen der beiden Angreifer erschießt, entgleist ihr Leben. Anstatt die Polizei zu rufen, der sie misstraut, oder in die Öffentlichkeit zu gehen, vor der sie sich fürchtet, mauert sich Ludo in ihrer Wohnung im wahrsten Sinne ein, lebt über 30 Jahre von gehorteten Vorräten, Landwirtschaft auf der Dachterrasse, Hühnern und gefangenem Getier, vorwiegend Tauben. Feuer macht sie mit dem Mobiliar, später mit den Tausenden Bänden der Bibliothek, die ihr zuvor neben einem alten Radio die einzige Unterhaltung waren. Ihre Gedanken, Gefühle, Beobachtungen schreibt sie in unzählige Notizhefte, später dann an die Wände der Wohnung. So vergehen die Jahre des Bürgerkriegs, den sie nur von fern beobachtet, genau wie die Veränderungen im Haus und in Luanda. Bis eines Tages ein kleiner kindlicher Einbrecher den Zugang zu Ludos verborgenem Reich entdeckt und sich das Leben für die Beiden grundlegend verändert.
Ein guter Schuss Magie liegt in der Geschichte (obwohl ihr wahre Begebenheiten zugrunde liegen sollen). Ludos unentdeckt bleiben, ihr abgeschlossenes Leben, das Verschwinden als Motiv (nicht nur von Schwager und Schwägerin, das gegen Ende sogar teilweise aufgeklärt wird, sondern zwischendrin eines ganzen Dorfs), all das lässt an Romane des magischen Realismus, gerade südamerikanischer Prägung, denken.
In 37 kurzen Kapiteln schafft der Autor ein Patchwork aus verschiedenen Erzählstimmen, Notizen, Briefen, Berichten, mit Zeitsprüngen, wechselnden Perspektiven, ungewöhnlichen Charakteren und wundersamen Einfällen. Es ist ein dichter, poetischer und ausgesprochen ungewöhnlicher Text, der ganz nebenbei noch von einer literarisch (zumindest mir) wenig erschlossenen Ecke der Welt erzählt. Eine interessante Entdeckung!
Beitragsbild: Bahia de Luanda by Erik Cleves Kristensen (CC BY 2.0) on Flick
Auf Makollatur, thelostartofkeepingsecrets und Travelwithoutmoving wurde das Buch auch bereits gelesen und besprochen.
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler
C.H.Beck Juli 2017, 197 S., gebunden, 19,95 €
Auf deine Rezension habe ich schon gewartet! Ich fand das Buch auch ganz wunderbar, und eigentlich dachte ich, es wäre etwas für mein August-Blogthema „Magischer Realismus“, aber es scheint ja wirklich eher so etwas wie „Realistische Magie“ zu sein, falls es denn so etwas gibt (ansonsten habe ich eben einen neuen Begriff geprägt :-)). Liebe Grüße an dich!
Du kannst den Begriff ja dem Verlag zur Werbung anbieten 😉 Er hat mich aber tatsächlich auch an die magischen Realisten Südamerikas erinnert. Agualusa lebt ja auch zeitweise in Brasilien. Liebe Grüße!