Es hätte so ein tolles Buch für mich werden können. Es ist zwar müßig bei einem Buch zu beklagen, wie es hätte sein können – ein anderes Ende, andere Protagonisten, anderer Handlungsverlauf – müßig, und bei Rezensionen oft geradezu ärgerlich. Bei Stefan Ferdinand Etgeton zweitem Roman „Das Glück meines Bruders“, fällt es mir aber schwer, gerade das nicht zu tun. Zu gut hat mir der Anfang gefallen, zu schwach wurde es dann für mich ab einem bestimmten Punkt.
Erzählt wird von einem Brüderpaar, das 2010 für ein paar Sommertage in das Haus der Großeltern in der Nähe von Antwerpen fährt. Nach deren Tod steht dies schon längere Zeit leer. Als Kinder haben der Ich-Erzähler Botho und sein älterer Bruder Arno viele Ferientage dort verbracht, schöne, erinnerungswürdige Kindertage schienen es gewesen zu sein. Doch schon bald bekommt das Bild der Vergangenheit, bekommt die vermeintliche Familienidylle heftige Risse. Schon bald merkt man, dass das Verhältnis der Brüder trotz aller spürbaren Nähe und Zuneigung nicht ganz problemlos ist. Arno scheint ein Suchtproblem gehabt zu haben, von dem er noch nicht ganz befreit ist. Schwierigkeiten in der Familie wabern als Ahnung von Anfang an mit, werden aber lange Zeit nicht ausgesprochen. Irgendwann wird aber deutlich, dass auch die Eltern dem Alkohol mehr als normal zugesprochen haben, der Großvater ebenso und dieser wohl auch sehr gewaltbereit war.
Botho hat zwar mit seinem Zivildienst in Bochum und dem danach angefangenen Studium den Absprung aus der ungeliebten südhessischen Heimatstadt Zwingenberg und dem Elternhaus geschafft, aber wegen einer dummen Affäre wurde seine befristete Lehrerstelle nicht verlängert und er scheint gerade ein wenig in der Luft zu hängen. Er wirkt sozial etwas isoliert und in Sachen Beziehung läuft auch gerade nichts.
Die Stimmung in der kleinen Reisegruppe, mit dabei ist die Arnos Freundin und zukünftige Ehefrau, Anja, ihre Ankunft im Ferienort der Kindheit, die Rückblenden dorthin, der leichtfüßige, leicht schnoddrige Erzählton – das ist alles sehr gut getroffen. Botho und Arno müssen beide wohl schon jenseits der Dreißig, noch nicht ganz im Erwachsenenleben angekommen zu sein. Arno versucht es mit der bevorstehenden Heirat, aber seine Labilität scheint durch. Auch Anja scheint sich des Risikos bewusst, steht ihm aber bei. Sie verhält sich geradezu heldenhaft.
Das Besondere an dieser etwas verspäteten Coming-of-Age Geschichte ist aber das Setting. Der Ort, in dem das großelterliche Haus steht, ist das belgische Doel. Eine Geisterstadt am südlichen Scheldeufer, die dem Ausbau des Antwerpener Hafens weichen soll und in unmittelbarer Nachbarschaft zum umstrittenen Kernkraftwerk gleichen Namens. Seit Jahren ziehen die Bewohner einer nach dem anderen fort, die Häuser stehen leer, verbarrikadiert. Nur wenige halten aus, Infrastruktur gibt es nahezu keine mehr. Mittlerweile ist Doel fast zu einem Museumdorf geworden, Gruppenausflüge dorthin inklusive, voll mit Graffiti und Zeugnissen unterbrochenen Lebens. Die etwas irreale Atmosphäre dort ist wunderbar getroffen, und wenn man sich per Google Maps mal dorthin aufmacht, kann man sich dem gespenstischen Flair kaum entziehen. Es scheint der passende Ort für die beiden etwas ziel- und haltlosen Brüder zu sein.
Botho erinnert sich an seine alte Ferienfreundin, bei der er sich irgendwann einfach nicht mehr gemeldet hat, die ihm aber jetzt als die große mögliche Liebe erscheint. Er setzt sich in den Kopf, sie zu finden, fährt dafür nach Amsterdam.
Viele Dinge werden in der Rückschauerzählt, einige werden geklärt, aber auch alte Verletzungen wieder aufgerissen. Bis hierhin liest sich der Roman faszinierend in seiner Mischung aus Aufbruch und Melancholie.
Leider wird die Handlung nach dem ersten Drittel zunehmend fahrig, Bothos Plauderton geschwätzig. Auch einen Missbrauchsfall hätte es nicht unbedingt gebraucht. Dass Botho schließlich völlig aus der Spur gerät, ist wenig nachvollziehbar. Am ärgerlichsten ist aber dessen plötzlich aufkommendes Selbstmitleid, die Larmoyanz, mit der Botho auf seine vermeintlich unterprivilegierte Kindheit und seine Familie schaut. Die Art, wie er dann mit der endlich gefundenen Leni umgeht, die so gar nicht seinem von ihr errichteten Traumbild entspricht, ist genauso wenig akzeptabel wie die Art wie er sich schließlich aus der Geschichte stiehlt. Und sie sind vor allem nicht plausibel.
Anja bringt es an einer Stelle auf den Punkt, als sie Botho vorwirft:
„Aber denkst du nicht, dass du übertreibst? Kannst du dich nicht mal lossagen von diesem ganzen Erwartungsquatsch und dein Leben genießen? Musst du alles auf die Gesellschaft schieben oder deinen Eltern die Schuld geben, solltest du nicht auch mal dich selbst befragen, ob du eine Mitverantwortung trägst? Klagst du nicht zu viel und klagst du nicht manchmal die Falschen an?“
Botho verlässt sein altes Leben, das ist ein Aufbruch. Ich mag ihm als Leserin dabei aber nicht mehr folgen. Arno scheint sich dagegen mit der Heirat einen Anker geschaffen zu haben. Ganz dran glauen kann ich irgendwie auch nicht.
So wird aus der wunderbar atmosphärischen Roadstory und Brüdergeschichte leider wieder nur eines dieser Bücher, in denen ein Protagonist stets nur um sich selbst kreist und die Ausfahrt nicht findet.
Das Lesen lohnt sich dennoch, denn die Schilderungen aus dem verlassenen Doel sind einfach großartig.
Ach, was hätte das für ein tolles Buch werden können!
Beitragsbild by ashley van steenacker (CC BY 2.0) on Flickr
C.H.Beck Juli 2017, 240 Seiten, Gebunden, 19,95 €
Ich habe ja einen Faible für einsame Orte. Jetzt hast Du mich aber doch neugierig auf das Buch – und auf Doel gemacht.
Ach, was eine interessante Rezension zu einem Buch, das so toll hätte werden können! 🙂 Du hast mich jetzt aber doch so neugierig gemacht, ob ich mit dem gleichen „Ach,…“ die Buchdeckel zuklappen und traurig aufs Buch schauen würde! Ich werde mir das Buch auf jeden Fall mal merken. Vielleicht darf es wirklich mal zum Zuge kommen…
GlG und ein schönes Wochenende,
monerl