Birgit Vanderbeke – Wer dann noch lachen kann
„Du wirst das erzählen“ hat der Mikrochinese gesagt.
Dabei liegt er auf dem Leuchtglobus, der nicht leuchtet, weil die Glühbirne gleich am Anfang kaputt gegangen und von den Eltern nie ersetzt worden ist. Der steht neben dem Bett der kleinen Ich-Erzählerin. Der Mikrochinese ist ihr imaginierter Vertrauter und Ratgeber, genauso wie ihre „Altstimme“, ihre Stimme, die aus der Zukunft zu ihr spricht, ihr erwachsenes Ich verkörpert und ihr zumindest die Hoffnung gibt, „das hier“ zu überleben, irgendwie zu überstehen. Denn manchmal sieht es so aus, als würde die Grenze überschritten. Die Grenze, von der man weiß,
„wenn sie da drüberrutschen, ist es zu Ende.“ „Das war ganz ähnlich wie bei der Kubakrise und dem Dritten Weltkrieg, und jetzt ist es wieder so mit allem, was die Menschen mit der Erde machen.“
Die Grenze, die die namenlose Ich-Erzählerin (ihre Altstimme nennt sie Karline) fürchtet, ist die Grenze der Gewalt, der „väterlichen Hand“. Es ist der Vater, der seine verträumte, unruhige, rastlose Tochter immer wieder mit äußerster Brutalität körperlich züchtigt. Verstörend ist es, zu hören, wie der Vater sie nicht nur aufs übelste beschimpft, sondern sie oft derart verprügelt und misshandelt, dass sie um ihr Leben fürchtet.
„Ich mochte es nicht, wenn das Blut an mir trocknete und klebrig wurde, weil die Haut unter der Blutschicht sich dann nicht mehr anfühlte wie Haut und sich auch nicht mehr normal bewegen ließ. normalerweise merkt man gar nicht, wie die Haut sich bewegt. Das ist genau wie beim Atmen. Man merkt gar nicht, dass man atmet. bis man plötzlich unter Wasser gedrückt wird oder ein Kissen aufs Gesicht kriegt.“
Verstörend vor allem, weil die Schilderungen so lapidar daherkommen. Es ist „nicht der Rede wert“ oder sie hatte „in dieser Sache ein bisschen Pech“. Es ist der naive Blick des Kindes, der in einfachen Sätzen, aber umso eindringlicher seine Lage analysiert, sie oft sogar relativiert, denn
„Meine Eltern sind nicht vor meinen Augen verhungert oder ertrunken, ich war nicht ohne Bett und ohne Dach über dem Kopf (…), es geht uns gut.“ Das eigene Elend zu relativieren, um zu überleben.
Es ist aber eigentlich nicht das Kind, das hier von seinem Elend in der nach außen tadellosen Familie zu Beginn der 60er Jahre mit Eigenheim, Zweitwagen und in der Pharmabranche erfolgreichem Vater erzählt, sondern die erwachsene Frau, die durch ein Schlüsselerlebnis eindringlich an diesen nie verarbeiteten Lebensabschnitt erinnert wird. Nach einem Autounfall leidet sie noch sehr lange an furchtbaren Schmerzen, die nicht therapierbar, ja nicht einmal genau diagnostizierbar sind. Die Ärzte sind ratlos, eine Freundin rät ihr den Besuch bei einem Therapeuten. Ein wenig Handauflegen, ein paar harmlose Fragen und ein Déja-vu: „In meinem Hirn tat es einen elektrischen Schlag.“
„Das ist nicht vergangen“ und
„Wer dann noch lachen kann, der kann lachen.“
Sprach so nicht auch der Mikrochinese, der alte Vertraute aus schlimmen Kindertagen. Monsieur Mounier nun praktiziert Mikrokinesie (!). Er ist der Auslöser dafür, dass sich für die Ich-Erzählerin ein Fenster in ihre verdrängte Vergangenheit öffnet, sie sich an all die Dinge erinnert, den schlagenden Vater; die Mutter, die ihn immer wieder zu den Bestrafungen aufforderte, dabei das Radio in der Küche laut aufdrehte, die ihre Tochter mit Medikamenten ruhigzustellen versuchte; die Nachbarn und Lehrer, die all die Zeichen nicht sehen wollten. Niemand der dem Kind zu Hilfe kam. Aber auch die eigene Ohnmacht.
„In all den Jahren ist mir nichts eingefallen, was ein Kind dagegen machen kann, weil es wahrscheinlich überhaupt nichts gibt, was es dagegen machen könnte.“
Auch ihrem Mann Gianni kann sie sich plötzlich mehr öffnen, zum ersten Mal Dinge ansprechen, die sie noch niemandem erzählt hat, ja, vor sich selbst verschlossen hat. Der Frauenarztbesuch, bei dem die Mutter den Arzt dazu nötigte, ihrer zehnjährigen Tochter die Minipille zu verschreiben. Was das mit dem Vater, der seinem „Augenstern“ das Lied „Reich mir die Hand mein Leben“ pfiff, zu tun hat, wird nur angedeutet. Auch bei Gianni dauert es eine Weile, bis „der Groschen fiel“.
Überhaupt wird Birgit Vanderbeke in Wer dann noch lachen kann selten explizit. Sie deutet an, überlässt es dem Leser, Schlüsse daraus zu ziehen. Ihre erwachsene Erzählstimme nähert sich der kindlichen dabei in den erinnerten Szenen fast unwillkürlich an. Sie ist wieder gefangen in der damaligen Hilflosigkeit. Aber sie erkennt, dass man „ohne Erinnern nicht in die Zukunft schauen“ kann. Heilung liegt für sie im Aussprechen. Wie ihr der Mikrochinese gesagt hat, sie wird es erzählen. Im Bewusstwerden, im Erzählen, im Niederschreiben liegt die Hoffnung auf Befreiung von der Last der Kindheit. Wie der Onkel Winkelmann, der Zimmergenosse im Flüchtlingsheim, immer sagte: Man muss wachsam sein und aufpassen und genau hinschauen, auch wenn es einem den Magen umdreht. Und dann soll man das Maul aufmachen. Das ist eine der Erkenntnisse, die im Buch immer wieder wiederholt werden, praktisch wie Lehrsätze immer wieder von der Erzählerin memoriert. Sie beziehen sich dabei explizit nicht nur auf Gewalt in den Familien, sondern auch gegen all die anderen Dinge, die in der Welt der Menschen so falsch laufen: Kriege, Umweltzerstörung, Vertreibung etc.
„Wir haben die Verantwortung für unsere Kinder.
Wir haben die Verantwortung in der Welt.“
Das Bedrohliche ist in Wer dann noch lachen kann von Birgit Vanderbeke zu Beginn nur undeutlich zu spüren, das ganze Ausmaß der Gewalt wird erst am Schluss richtig deutlich, schraubt sich wie eine Spirale allmählich hoch, wenn sich die Erinnerungsscherben zu einem Mosaik zusammensetzen. Das zieht die Leserin in einen Sog hinein, dem man sich schwer entziehen kann. Oft ertappt sie sich, dass auch sie nicht mehr so genau hinschauen möchte, „obwohl es nicht mehr so weitergehen konnte“. Und tun wir das in unserem Alltag an so vielen Stellen nicht auch tatsächlich viel zu oft? Dass die Erzählerin ihren Peiniger, den Vater trotz allem irgendwie verteidigt (er erkennt das Stoppschild nicht), fühlt sich falsch an. Ist aber wohl nicht ungewöhnlich.
Zurück bleibt eine tief erschütterte, nachdenkliche Leserin. So sollte das bei Literatur sein.
Beitragsbild: by geralt on Pixabay CC0
Ich danke dem Piper Verlag für das Rezensionsexemplar!
Birgit Vanderbeke – Wer dann noch lachen kann
Piper August 2017, Hardcover mit Schutzumschlag, 160 Seiten, € 18,00
https://guenterkeil.wordpress.com/2017/08/14/birgit-vanderbeke-wer-dann-noch-lachen-kann-rezension-guenter-keil-literaturblog/
Scheint eine Fortsetzung von „Ich freue mich, dass ich geboren bin“ zu sein. Und es klingt noch unerträglicher … Überlege, ob ich es lese …
Ich kenne „Ich freue mich, dass ich geboren bin“ leider nicht, aber thematisch dürfte es das schon sein. Es ist wieder ein recht schmaler Roman, die Thematik intensiv, aber andererseits nie niederdrückend. Ich habe es gern gelesen. Viele Grüße!
https://literaturleuchtet.wordpress.com/2016/03/05/birgit-vanderbeke-ich-freue-mich-dass-ich-geboren-bin-piper-verlag/
Der Globus und die innere Stimme gab es auch da. Das Mädchen ist ein paar Jahre älter. Wohl also tatsächlich eine Art Fortsetzung, aber in der Rückschau erzählt.