Hier sind sie endlich alle wieder, die „Pfeifen“: Kneipenbesitzer Erwin Kächele und seine Frau Helga, Schwester Kerstin und deren Tochter Chrissie, die Künstler Karl Schmidt, H.R.Ledigt und natürlich P.Immel von der ArschArt, die „Instandbesetzer“ Kacki, Jürgen1,2,3 und Kollegen und natürlich Frank Lehmann, den es nach seiner Bundeswehrzeit in Neue Vahr Süd nach Berlin verschlagen hat. Im neuen Roman von Sven Regener – Wiener Straße..
Es ist ein Wiedersehen mit langvermissten Freunden, die irgendwie auch ziemlich nervig sind, die man aber im Herzen trägt. Schwierig zu sagen, ob dieser Roman auch bei Erstlesern funktioniert. Zeitlich einzuordnen ist er unmittelbar nach „Der kleine Bruder“. Frank Lehmann ist gerade in Berlin angekommen, es ist immer noch 1980. Erwin Kächele hat gerade mit Mühe und Not die bei ihm untergekrochenen „Pfeifen“ Karl Schmidt, H.R.Ledigt, Chrissie und Herr Lehmann in eine seiner Wohnungen umgesiedelt. Bei seiner schwangeren Frau steht die Geburt bald bevor, man will die Fabriketage endlich mal für sich alleine haben. So vergeht ein großer Teil des Romans beim Renovieren der neuen WG-Wohnung, bei der auch Nachbar Marko kräftig mit anpackt. Noch mehr Zeit allerdings verbringt man im „Einfall“, jener legendären Kneipe Erwin Kächeles, die wir bereits aus „Herr Lehmann“ kennen und die das Herzstück des Buches ist. Hier tummeln sich bald Chrissie, Karl und Frank Lehmann hinter der Theke, kämpfen mit der vorsintflutlichen Gastrokaffeemaschine und hier zieht Kerstin erfolgreich ein Tagescafé auf. Eine der schönsten Szenen dieses an schönen Szenen wirklich reichen Romans ist die, in der an sämtlichen Tischen irgendwelche Gestalten sitzen und selbstgebackenen Kuchen futtern. Dritter Schauplatz ist eine Kunstausstellung in der ArschArt-Galerie, bei der Erwin die Gastro macht (mit Original Chateau Strunzinger mit Schraubverschluss) und unsere Künstler ausstellen.
Mehr an Handlung ist nicht. Deshalb wird es der Roman bei Lesern, die die Vorgängerbücher oder zumindest Herrn Lehmann nicht kennen (aber gibt es die überhaupt?) schwer haben. Wie wenn man auf eine fremde Familienfeier gerät oder in eine eingeschworene Freundesclique und die Witze nicht versteht und die Leute alle merkwürdig findet. Denn reichlich merkwürdig sind sie schon, die Typen in der Wiener Straße. Aber gerade darum lieben wir sie ja so.
Die Dialoge, die wie gewohnt reichlich vorkommen, sind ebenso gewohnt skurril, absurd und brillant. Dass sie voller versteckter Lebensweisheiten stecken, weiß jeder Regener Fan. Ihr Sound ist unverkennbar – lässig, schnodderig, direkt, sehr klug und immer auch ein bisschen melancholisch, bei allem Witz. Und dieser Witz ist wirklich erstaunlich. Es gibt kein Buch, bei dem ich auch nur annähernd so viel lachen musste wie bei den Regener Büchern.
Dabei entfaltet Sven Regner in „Wiener Straße“ wieder sehr viel von jenem Berlin-Gefühl, das wir auch bereits aus den Vorgängerbänden kennen. Jenes leicht morbide, dabei aber voll im Aufbruch steckende „Inselgefühl“, das man, hat man es damals nicht erlebt, heute kaum nachvollziehen kann und dem mancher nachtrauert. Besonderes Augenmerk legt Sven Regener dabei neben den Ausflügen in die Hausbesetzerszene und die Kneipenkultur auf die alternative Kunstszene. In einem Interview sagte Sven Regener dazu, dass ihn sehr fasziniert, wie „sich die bildende Kunst durch die Punkszene entakademisiert hat.“ Und so stürzen sich die Künstler der ArschArt voller Tatendrang und Idealismus, mit einem herrlich naiven Optimismus ins Kunstgeschäft. Da wird ein verbrannter Kuchen in der Vitrine schlicht zu Kunst erklärt, verschlossene Kisten, die ein „Kunstwerk“ enthalten, aber halt nicht geöffnet werden dürfen, verkauft und eine umgesägte Straßenlinde unter dem Titel „Mein Freund der Baum“ ausgestellt. Das ist natürlich ein wenig albern, aber Regeners Protagonisten agieren alle mit einer solchen Inbrunst, dass man ihnen bei allem darüber Lachen immer gerne folgt. Allerdings weiß ich, wie gesagt, nicht, ob das Buch auch bei Lesern funktioniert, denen der Lehmann-Kosmos unvertraut ist. Denn weniger als alle anderen Bände der Trilogie (Neue Vahr Süd, Der kleine Bruder, Herr Lehmann), zu denen Wiener Straße streng genommen nicht gehört (sein Fokus liegt weniger auf Frank Lehmann, mehr auf dem gesamten Figuren-Kollektiv), steht das Buch meiner Meinung nach für sich allein. Es ist ein wunderbarer zusätzlicher Einblick, gewohnt witzig, atmosphärisch und hintergründig, den uns Sven Regener in Wiener Straße bietet.
Herrlich für die Leserin, ein paar Stunden im „Einfall“ oder mit Frank Lehmann beim Tapezieren der WG-Küche zu verbringen. Wer die „Pfeifen“ noch nicht kennt, sollte besser mit einem der anderen Bücher beginnen. Das wäre zum Beispiel auch mit dem etwas abseits stehenden (da Karl Schmidt als Hauptprotagonisten aufweisenden) „Magical Mystery“ möglich, der gerade verfilmt wurde und seit 31.8. in den deutschen Kinos zu sehen ist. Die Schlussszene der „Wiener Straße“, in der Lehmann und Schmidt nach der geplatzten, da von einer Polizeirazzia gesprengten ArschArt-Ausstellung am Bordstein sitzen, trinken und ein wenig philosophieren, kann ich mir jedenfalls wieder wunderbar auf der Filmeinwand vorstellen.
Beitragsbild: Mainzer Straße By Renate Hildebrandt (Own work) [CC BY 3.0], via Wikimedia Commons
Frank O. Rudkoffsky hat das Buch auch bereits besprochen.
Ich danke dem Galiani Verlag für das Rezensionsexemplar!
Sven Regener – Wiener Straße
Kiepenheuer & Witsch September 2017, gebunden, 304 Seiten, 22,00€
Ich habe es gerade beendet und finde, dass es an die Lehmann-Trilogie, vor allem an Herr Lehmann und Neue Vahr Süd, meine Favoriten, nicht ganz heranreicht. Vielleicht, weil in der Lehmann-Trilogie die Geschichten stringenter sind, sich einfach eben auf ihn konzentrieren. Hier ist es ja mehr die Gruppe, die im Mittelpunkt steht und natürlich die witzigen, lebensklugen Dialoge, an denen ich meine helle Freude hatte. Letztlich war mir hier doch etwas zu wenig Handlung glaube ich. Gefallen hat es mir trotzdem, nur eben mit ein paar kleinen Abstrichen.
Ich stimme dir zu. Ein Buch für Kenner sozusagen. War einfach schön, die bekannten Typen wieder mal auftauchen zu sehen. Ich war gestern auf einer Lesung von Sven Regener. Das war ein wahres Pointenfeuerwerk!
Das stelle ich mir auch sehr nett und unterhaltsam vor.
Hach, ein Wiedersehen mit alten Bekannten, ich freue mich schon drauf
Ich freue mich sehr auf dieses Familienfest, frage mich aber, ob dieser Kosmos nicht langsam ausgereizt ist. Vor allem tut sich Regener keinen Gefallen damit, dass der aléser vorher noch ein paar andere Bücher gelesen haben sollte, das macht ja kaum noch einer. Ich kenne alle und freue mich auf Wiener Straße. Allerdings werde ich wohl wieder zum Hörbuch greifen, denn Regener liest schon klasse!
Letzte Woche war ich auch im Kino, die Umsetzung von Magical Mystery fand ich auch gelungen. Die Besetzung der Hauptfigur war sehr passend.
Viele liebe Grüße
Silvia
Liebe Silvia, ausgereizt würde ich nicht unbedingt sagen, dazu sind die Abstände zwischen den Büchern zum Glück groß genug. Wir eingeschworenen Lehmann Fans freuen uns ja schon auf das Wiedersehen. Und man kann das Buch auch ohne die Vorgänger lesen. Ich fürchte eher, dass ein Leser, der das erste Mal zu Wiener Straße greift, das Buch zu Unrecht als nur klamaukig finden könnte und das Lehmann Universum dann gar nicht mehr betreten mag. Bloggerkollege Rudkoffsky sprach von einer „improvisierten B-Seite von Herrn Lehmann“, das trifft es für mich ganz gut. Im November gehe ich zu einer Lesung mit Regener, darauf freue ich mich auch sehr. Vielleicht traue ich mich auch mal in den Film, obwohl ich ansonsten Verfilmungen eher meide. Aber „Herr Lehmann“ war ja auch toll verfilmt. Liebe Grüße, Petra
Ich freu mich auch schon drauf! Das kommt bei mir auf den Oktoberstapel! ??
Viel Spaß!
Hallo Petra,
ich kenne bisher nur den Herrn Lehmann (und den auch nur in der Filmversion), habe mir aber gerade das Hörbuch von der Wiener Straße gekauft. Mal schauen, ob ich mich als Erstleser bzw. Ersthörer mit den Figuren schnell anfreunden kann. 🙂 Auf jeden Fall habe ich durch deine Buchbesprechung richtig Lust auf diese Lektüre bekommen. 🙂
Lieben Gruß von Tina
Oja, gib unbedingt eine Rückmeldung. Ich hatte den Eindruck, dass man das Buch vllt. eher ein wenig klamaukig und oberflächig empfinden könnte, wenn man die anderen Bücher nicht kennt (und liebt). Würde mich freuen, wenn ich da falsch liegen würde. Und wenn nicht, dann bitte nochmal mit einem der anderen Bände versuchen. Liebe Grüße, Petra