Es ist ein kleines Land, aus dem dieser Roman berichtet und aus dem der 1982 geborene Autor Gaёl Faye stammt. Es ist kleiner als Belgien, aber genauso dicht besiedelt. Es liegt im Landesinneren des östlichen Afrika, am Tanganjikasee, 46% seiner Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre. Neben Kirundi ist auch Französisch Amtssprache. Die Menschenrechtslage ist äußerst problematisch.
Burundi ist laut Welthunger-Index das ärmste Land der Erde.
Ich muss zugeben, dass ich bisher wenig über Burundi wusste.
Nicht nur deswegen ist „Kleines Land“ ein wichtiges, ein unbedingt empfehlenswertes Buch. Es ist auch wunderbare Literatur, die 2016 den Prix Goncourt des lycéens gewann und nun, auch anlässlich des diesjährigen Buchmessenschwerpunkts „Francfort en français“, in Deutschland erscheint.
Es erzählt von einer glücklichen Kindheit, die abrupt und tragisch endete, weil die Grausamkeit der afrikanischen Realität in sie eindrang. Der spielerische Prolog, eine Plauderei zwischen Vater und Sohn, lässt ahnen, welches Unheil sich zusammenbraut.
„Ich weiß wirklich nicht, wie die Geschichte angefangen hat.
Dabei hat Papa uns das mal im Pick-up erklärt. „In Burundi ist es wie in Ruanda, versteht ihr? da leben drei verschiedene Gruppen, Ethnien heißt das. Hutu gibt es am meisten, die sind klein und heben eine dicke Nase.“ (…) Etwas lag in der Luft. Und das konnte man riechen, egal, mit welcher Nase.“
Gleichwohl fängt das Buch so heiter und unbeschwert an. Der kleine Gabriel, der einige Eckdaten mit dem Autor gemeinsam hat, wächst als Sohn eines französischen Vaters und einer ruandischen Mutter in sorglosen Verhältnissen auf. Eine kleine Sackgasse in Bujumbara ist seine Welt, die er mit seiner Schwester Ana und einer kleinen Kinderbande bevölkert. Der Diplomatensohn Armand, die Zwillinge, die auch einen französischen Vater haben und Gino, dessen belgischer Vater selten in Erscheinung tritt und dessen ruandische Mutter noch niemand zu Gesicht bekommen hat, bilden eine eingeschworene Gemeinschaft. Sie gehen in die französische Schule, stehlen Mangos, ärgern die Nachbarn und bauen sich einen alten VW-Bus als Treffpunkt aus. Koch Prothé, der Zairer Donatien und der Fahrer Innocent kümmern sich um das Wohl der Familie. Diese ist modern und aufgeklärt, aber im Umgang mit den Angestellten spürt man doch eindeutig die soziale Hierarchie, die herrscht. Noch greifbarer wird es bei Jacques, dem Familienfreund, der seine eindeutig koloniale Attitude ganz ungeniert pflegt. Von sozialen Spannungen oder politischen Turbulenzen werden die Kinder weitgehend ferngehalten, auch warum die Mutter Yvonne und Großmutter Rosalie einst aus Ruanda flohen und ihre Verwandten dort kaum besuchen, wird nie thematisiert. Es ist eine fröhliche, nur von kleinen Kindersorgen belastete Zeit.
„Das Glück sieht man nur durch den Rückspiegel.“
Doch dann bricht die Realität auch in diese kleine Enklave ein.
1993 ließ der burundische Machthaber Buyoya nach einer langen Kette an Putschen, ermordeten Präsidenten und Aufständen erstmals lang ersehnte freie Wahlen zu, die der Hutu Ndadaye gewann. Aber auch dieser gewählte Präsident wurde bereits im selben Jahr ermordet, erneut begleitet von blutigen Aufständen und der Flucht Hunderttausender Hutu. Diese Eruptionen konnten auch an der kleinen Gemeinde in der Sackgasse nicht unbemerkt vorbeigehen. Ein ruandischer Onkel, Mitglied einer Rebellenorganisation, wird im Nachbarland getötet und die Meldungen von dort werden immer besorgniserregender. Mutter Yvonne und die Kinder reisen 1994 zur Hochzeit ihres Bruders nach Kigali. Dort geraten sie nach dem Flugzeugabschuss, dem sowohl der ruandische als auch burundische Präsident zum Opfer fielen, mitten in den beginnenden Völkermord, dem die Mutter als Angehörige der Tutsi-Volksgruppe nur knapp dank ihres französischen Passes entkommt. Diese Schilderung ihrer Reise durch Ruanda gehört mit zu den eindringlichsten und bedrückendsten Passagen des Buches.
„Hinter scheinbarer Ruhe, einer lächelnden Fassade und großen, optimistischen Reden waren beständig dunkle, unterirdische Kräfte am Werk, um Gewalt und Zerstörung freizusetzen, die in wiederkehrenden Perioden durch Land fegten wie tückische winde: 1965, 1972, 1988. Ein böser Geist schaute regelmäßig vorbei, um die Menschen daran zu erinnern, dass Friede nur ein kleines Inrevall zwischen zwei Kriegen ist. Diese giftige Lava, die breiten Blutströme sollten bald wieder an die Oberfläche quellen. Wir wussten es noch nicht, aber die Zeit des Infernos war gekommen, und die Nacht ließ das Rudel der Hyänen und Wildhunde los.“
Gaёl Faye macht aber auch deutlich, dass sowohl der Geheimdienst als auch ausländische Stellen sehr wohl über das Bevorstehende informiert und gewarnt waren.
Wieder zurück in Burundi, muss die Familie feststellen, dass die Unruhen auch vor der Landesgrenze nicht halt gemacht haben, hier nur nicht so eskalieren wie im Nachbarland. Angst ist dennoch ein ständiger Begleiter und Gabriel muss erkennen, dass Machtlosigkeit manchmal auch Schuld nach sich zieht. Schließlich gelingt es dem Vater, die Kinder in letzter Minute ins sichere Frankreich ausfliegen zu lassen. Viele der Zurückgebliebenen wurden Opfer oder zu einem, der
„aus dem Land floh wie so viele andere, im Gänsemarsch, eine Matratze auf dem Kopf, ein Bündel in der Hand, die Kinder an der anderen, Ameisen in einem Menschenmeer, das am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts die Straßen und Pisten Afrikas überflutete.“
Als Rahmenhandlung kehrt der nunmehr 33jährige Gabriel aus Frankreich in seine alte Heimat zurück und macht dort eine berührende Entdeckung.
„Ich torkele zwischen zwei Ufern, daran krankt meine Seele. Tausende Kilometer trennen mich von meinem früheren Leben. Aber es ist nicht die räumliche Entfernung auf der Erde, die die Reise lang macht, sondern die vergangene Zeit.“
Gaёl Faye ist ein in Frankreich bekannter Musiker und Rapper, es existiert auch ein Song und ein Video zu „Kleines Land“.
youtube – Gaël Faye – Petit Pays
Ihm gelingen eindrückliche Charaktere, ein Einblick in die verschlungenen, tragischen politischen Ereignisse, ein wenig Erkenntnis über die unfassbaren Grausamkeiten, die während des Völkermordes in Ruanda vor sich gingen. Es ist auch ein nostalgisches Buch, das über eine verlorene Kindheit berichtet – voller Liebe, aber ganz ohne Pathos -, das auch die ganz dunklen Seiten Afrikas nicht unerwähnt lässt. Ein unbedingt empfehlenswertes Buch!
Gaёl Faye – Kleines Land
Übersetzt von: Andrea Alvermann, Brigitte Große
Piper Oktober 2017, 224 Seiten, Hardcover, € 22,00
Beitragsbild: Kinder in Burundi/Afrika by Laura Schmidt-Niederhoff (CC BY-SA 2.0) on Flickr
Ich danke dem Piperverlag für das Rezensionsexemplar!
Hallo Petra,
ich habe von diesen Völkermorden schon einiges gehört.
Deine Rezi ist mit den Bildern so unheimlich gut gelungen, klar, dass dieses Buch auch auf meine Wunschliste wandert.
LG Barbara
Liebe Barbara! Das freut mich! Ich denke, es wird dir gefallen. Berichte mir dann! Liebe Grüße!
Eine tolle Besprechung! Da führt ja fast kein Weg mehr vorbei an dem Roman über das „kleine Land“. Alleine schon deshalb, weil wir ja wirklich wenig über die verschiedenen Konflikte in Afrika wissen und solch ein aktueller Roman Geschichten erzählt, die uns die Situation so lebhaft vor Augen führen.
Viele Grüße, Claudia
Dankeschön! Mir hat es gut gefallen.