Rezension zu Mohsin Hamid – Exit West :
Laut UN sind weltweit mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Sei es vor Kriegen, Terror, politischen Verfolgungen, sexuellen Diskriminierungen, aus purer Not oder Perspektivlosigkeit, diese Menschen zieht es in den Westen, manchmal trotz Vorbehalten gegenüber den dort herrschenden Werten und der Lebensweise dort, immer aber mit der großen Hoffnung, ein besseres, ein erfüllteres Leben zu finden. Auch wenn die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit nicht mehr so groß ist wie in den Jahren 2015/2016, als sich besonders viele Menschen aus dem Nahen Osten und dem nördlichen Afrika aufmachten, ihr Glück in Europa zu suchen, beherrscht das Thema die Nachrichten im Fernsehen und den Printmedien, bestimmt es Wahlkämpfe mit, entzweit es die Bevölkerungen der westlichen Staaten darüber, wie umzugehen ist mit diesem Phänomen, das nicht einfach verschwindet, das sich als eine feste Konstante des globalisierten 21. Jahrhunderts festzusetzen scheint.
Egal, ob man dem Thema Zuwanderung positiv oder negativ gegenübersteht, es sind immer die gleichen Bilder, die es bestimmen: lange Schlangen von zumeist jungen Männern mit Rucksäcken, Familien mit Sack und Pack und kleinen Kindern auf den Schultern, dunkelhäutige Menschen in maroden Schlauchbooten, Berge an Schwimmwesten an östlichen Mittelmeerstränden, überfüllte Flüchtlingscamps, trostlose Erstaufnahmeunterkünfte, aufgebrachte „Migrationsgegner“.
Bei all diesen stereotypen Bildern geht der Blick verloren auf die Einzelschicksale. Auch wenn wir empathisch genug sind, uns vorzustellen, was diese Menschen alles vielleicht für immer verloren haben – Heimat, Familie, Freunde, Identität, den Platz im Leben -, wird es doch nicht gelingen, wirklich zu fühlen, was es heißt ein Flüchtender zu sein. Es braucht möglicherweise einen ganz neuen Ton, eine besondere Sprache, eine andere Art des Erzählens, um wieder aufmerksam zu machen auf das Ungeheuerliche, das fast schon Alltag zu werden beginnt.
Der pakistanische Autor Mohsin Hamid versucht, in seinem Roman „Exit West“ eine solche neue, aufrüttelnde Art des Erzählens zu finden.
Er erzählt ganz sanft und leise. Er erzählt eine Liebesgeschichte.
Saeed und Nadia, zwei junge, gebildete und aufgeklärt Menschen lernen sich auf einer Fortbildungsveranstaltung zu „Corporate Identity und Produktbranding“ in einer nicht näher bezeichneten muslimischen Großstadt kennen. Hamid war diese Universalität wichtig. Sie kommen sich langsam näher, die unabhängige, allein lebende, Motorrad fahrende, sich vor den Zudringlichkeiten der Männer in schwarze Gewänder hüllende Nadia und der sanfte, zurückhaltende, vorsichtige Saeed. Irgendwann gerät die politische Auseinandersetzung, der religiöse Disput im Land außer Kontrolle. Es führt zum Bürgerkrieg, fanatisierte Gruppen streben nach der Macht. Die Infrastruktur kommt zum Erliegen, Kämpfe brechen aus, Stadtteile geraten unter die Herrschaft der einen oder anderen Gruppierung. Als Saeeds Mutter zufälliges Opfer der Kämpfe wird, beschließen die beiden zu fliehen. Der Vater fühlt sich zu alt, zu sehr an den Ort und die letzte Ruhestätte der Mutter gebunden. Er bleibt zurück.
Hamid erzählt bis hierhin sehr realistisch. Dennoch schwebt ab der ersten Zeile ein besonderer Ton über den Seiten. Man merkt sehr bald, dass hier keine gewöhnliche Liebes- oder Lebensgeschichte erzählt werden soll. Es ist der Ton der Parabel oder des Märchens. Er beginnt so:
„In einer von Flüchtlingen wimmelnden Stadt, in der es überwiegend noch friedlich zuging oder jedenfalls kein offener Krieg herrschte, begegnete ein junger Mann in einem Klassenzimmer einer jungen Frau, ohne sie jedoch anzusprechen. Das ging etliche Tage so. Sein Name war Saeed und ihrer Nadia“
Und schon bald verlässt Hamid das rein realistische Erzählen. Türen tauchen auf im Land, überall auf der Welt, Türen durch die man – gegen Bezahlung – treten kann, um sich danach woanders wiederzufinden: „Exit West“. Ein wenig magischer Realismus, ein wenig moderne Legende, ein wenig „Die Chroniken von Narnia“.
Saeed und Nadia landen zunächst auf Mykonos, dann in London und schließlich in der San Francisco Bay, in einer von Geflüchteten neu gegründeten Stadt, Marin. Die Erfahrungen, die das Paar macht, werden genau und realistisch und gleichzeitig märchenhaft-allgemeingültig erzählt. Das überfüllte Flüchtlingslager auf der griechischen Insel, das mehr einem Gefängnis gleicht, das Ghetto in London, gegen das aufgebrachte Einheimische randalieren, das Aufbauprojekt, das den Menschen ermöglicht, sich in Eigenleistung ein Zuhause aufzubauen, die zukunftsweisende Stadt Marin – Dystopie sowohl wie Utopie. Hamid beschreibt, was Schlimmes geschieht und noch geschehen könnte (London befindet sich irgendwann kurz vor einem Bürgerkrieg), er phantasiert aber auch mögliche Auswege, Lösungen der Problematik mit dem Selbsthilfeprojekt und der Zukunftsstadt in Amerika. Es sind keine rosigen „Heile-Welt-Lösungen“, aber es sind Ideen für konstruktiven Umgang.
Saeed und Nadia verändern sich während ihrer Odyssee. Nadia wird noch unabhängiger, offener, individualistischer, verliebt sich in eine andere Frau; Saeed sucht in der Fremde die Gemeinschaft, den Halt und die Orientierung im Glauben, findet in der Tochter eines Predigers eine neue Liebe. Ihre Gemeinsamkeit zerbricht, aber auch das, wie das ganze Buch, auf sanfte, stille Art.
Ein Roman über Flucht und Vertreibung als Märchen, als Utopie. Kann das gelingen?
Ja und Nein. Mohsin Hamid schreibt sehr ruhig, präzise, gut lesbar. Er wählt das leicht Magische, Universelle und schafft damit eine Parabel, eine Reflexion über das Thema, die allgemeingültig, klug und einfühlsam ist. Er schreibt nicht politisch, ist mit seiner Aussage aber natürlich ganz nah dran an einem der wichtigsten politischen Themen unserer Zeit.
Andererseits verwehrt er durch diese spezielle Erzählhaltung – zumindest mir – einen wirklichen Zugang zu den Personen und ihren Geschichten. Man hat die Botschaft der Geschichte verstanden, man teilt die meisten Gedanken, stimmt zu, dass es ein richtiges und wichtiges Buch für diese Zeit ist. Tiefere Spuren hinterlässt der Roman aber kaum. Dazu bleibt er (gewollt) zu sehr im Allgemeingültigen. Um wirklich zu ergreifen, braucht ein Roman, vor allem ein Liebesroman, Protagonisten, die dem Leser auf die eine oder andere Art nahe kommen, und nicht nur Figuren sind. Auch wenn ihm das nicht ganz gelungen ist, hat Mohsin Hamid mit Exit West dennoch einen beachtens- und lesenswerten Roman geschrieben, er stand dieses Jahr sowohl auf der Shortlist des Man Booker Prize als auch unter den Finalisten des Kirkus Prize.
Beitragsbild: by geralt CC0 on Pixabay
Für Letteratura war das Buch ein Lesehighlight!
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Aufgrund nicht geklärter Rechtslage in Bezug auf Links zu Verlagsseiten möchte ich, da ich euch diese Informationsquellen nicht vorenthalten will, in Zukunft diese unter *Werbung* aufführen. Ich möchte aber betonen, dass die Rezensionen wie immer völlig unabhängig in eigener redaktioneller Verantwortung verfasst wurden, keinerlei Aufforderungen des Verlags zur Verlinkung vorliegen, oft sogar noch nicht einmal ein Rezensionsexemplar. Danke für euer Verständnis!
Mohsin Hamid
EXIT WEST
Übersetzung: Monika Köpfer
Dumont August 2017, geb. 224 Seiten, € 22,00
Klingt sehr „verwegen“ was die schriftstellerische Umsetzung anbelangt. Glaube diesmal atmet mein SUB erleichtert durch, das ist nicht so mein Ding. Solch einen Stoff a la Narnia aufzuarbeiten löst bei mir eine leichte „Abwehrspannung“ aus … LG Petra
Verwegen würde ich gar nicht unbedingt sagen. die Fantastik ist eher dezent eingesetzt worden. Mich hat das parabel- oder märchenhafte im Ton in diesem Fall nicht ganz überzeugt. Lesenswert ist es aber dennoch, nur, du hast recht, man ist ja schon ganz froh, wenn man das Gefühl hat, nicht alles lesen zu müssen. Liebe Grüße!
Wie Recht Du hast 😉