Seit Bekanntgabe der offiziellen Shortlist für den Bloggerpreis Das Debüt 2017 hat die heiße Phase des Preises begonnen und die Jurymitglieder lesen sich durch die fünf kandidierenden Titel mit insgesamt ca. 1600 Seiten. Ich habe mit Julia Weber – Alles ist immer schön aus dem kleinen Schweizer Limmat Verlag begonnen – für mich leider ein denkbar schlechter Start.
Prinzipiell sollte man natürlich alle Bücher gleich behandeln, trotzdem genießen Debüts bei mir doch eine gewisse Sonderstellung und mir fällt eine negative Kritik hier viel schwerer als bei etablierten Autoren oder gar Bestsellern. Zu „Immer ist alles schön“ von Julia Weber fällt mir leider aber wenig Positives ein.
Das Thema ist noch leidlich interessant, wenn auch meiner Meinung ein wenig strapaziert in letzter Zeit: Ein vernachlässigtes, weitgehend sich selbst überlassenes Geschwisterpaar, eine völlig überforderte und sich verweigernde Mutter, die die Flucht aus dem ungeliebten Alltag im Alkohol, Sexabenteuern und ihrem Tabledance-Job, schließlich dann ganz wortwörtlich sucht. Die ca. 14 jährige Anais und ihr kleiner Bruder halten sich aneinander fest und mit Mühe die Fassade eine Weile aufrecht, bis nach dem endgültigen Weggang der Mutter alles entgleist.
Erzählt wird von Anais und der Mutter im Wechsel, wobei dem Mädchen die größeren Erzählanteile zukommen.
Der Ton ist extrem (meiner Meinung nach über-)poetisiert. Das soll wohl die von allen Familienmitgliedern praktizierte Flucht aus dem Alltag in ein Fantasiereich, in dem „Immer alles schön ist“, fühlbar machen. Leider ist dieser Ton nicht nur ungemein anstrengend, sondern sind mir auch derart viele sprachlichen Holprigkeiten aufgefallen, dass ich dem Text nur sehr unwillig folgen konnte. Solche Holprigkeiten sind für mich beispielsweise die sich in enormer Dichte wiederholenden Wörter. Andererseits verschwinden diese Anhäufungen ab der Mitte des Buches, so dass auch nicht unbedingt von einem bewusst eingesetzten Stilmittel ausgegangen werden kann. Zur Verdeutlichung zwei Beispiele:
„Wie liegen dann im Bett und langweilen uns. Wir sind krank und liegen im Bett. Mutter bringt uns Tee und Salzstangen. Aber wir sind ja gar nicht krank, sagen wir. Doch ihr seid krank, sagt Mutter, sonst wärt ihr nicht hier, sondern in der Schule, und wärt ihr doch hier, aber nicht krank, dann wäre ich eine schlechte Mutter.“
„Sie hatte alles vorbereitet, begann den Braten mit Öl einzureiben, sie steckte den Rosmarin unter den Faden, der um den Braten gebunden war. Die Katze saß auf dem Stuhl und betrachtete den Braten.“
Außer an diesen Wortwiederholungen habe ich mich an unzähligen Formulierungen gestoßen, die mir einfach nicht in den Sprach- und Empfindungshorizont der Kinder zu passen scheinen (ja, ich weiß, es ist schwierig, zu beurteilen, wie reif Heranwachsende sind, welche Gedanken sie wälzen, aber es muss zumindest plausibel erscheinen). Für mich passen Formulierungen wie „Wir würden einen Kinderwagen schreien hören.“ oder „Mutter bewegt ihren reflektierenden Körper zur Musik, die feucht ist wie Freds Lachen.“ oder „Sie werfen Worte über die Tische, lachend.“ oder „Er sagt Mutters Namen, als wäre ihr Name kein Name, vielmehr ein Ausdruck für das Empfinden von Glück.“ einfach nicht.
Das größte Problem, das ich mit dem Roman hatte ist demnach auch die mangelnde Glaubwürdigkeit der Figuren, seien es die Kinder oder auch die depressive Nachbarin Frau Wendeburg. Niemals erschienen sie mir irgendwie greifbar oder nachempfindbar, etwas besser gelang das in den Passagen der Mutter. Eine davon, ziemlich in der Mitte und „Mutter“ betitelt, gefiel mir sogar recht gut, hier hätte für mich der Roman sogar nochmal ins Positive kippen können, leider ging er danach aber weiter wie zuvor. Besonders auch die Figur des „Riesen“, wohl ein Sozialarbeiter, der die Familie betreut, entbehrt jeglicher Realitätsnähe. Oder würde ein solcher bei den zu betreuenden Kindern, zudem noch in einer Extremsituation, darüber klagen, dass es ihm nicht gelingt bei seinen heranwachsenden Töchtern
„nicht ihre schmalen Hälse zu bemerken und die Brüste, die wachsen, da, wo ich es aber nicht sehen sollte. Und es macht mich traurig, dieses Wachsen, aber wie soll ich das meinen Töchtern sagen, dass es mich traurig macht, dass ihnen Brüste wachsen?“
Genauso fragwürdig ist, dass die Feuerwehr schließlich (und nachdem der Riese einige Male in der Wohnung war) die Balkontür einschlägt. Warum? Das geht auch mit Schlüsseldienst.
Man darf diesen Roman eben nicht unter dem Aspekt der Glaubwürdigkeit lesen? Das verrät dann aber die geschilderte Not der Kinder. Und außerdem gibt mir die Autorin keinerlei Anhaltspunkt dafür in die Hand, wie ich ihn sonst lesen soll.
Ich weiß, dass einige LeserInnen ganz angetan von „Immer ist alles schön“ von Julia Weber sind. Nicht umsonst gewann der Roman auch den Franz-Tummler-Preis und stand auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. Für mich war es das denkbar ungeeignetste Buch. Ich hoffe, ich konnte deutlich machen, warum das so war. Vielleicht empfindet ihr die zitierten Passagen ja ganz anders. Eva Jancak von Literaturgeflüster hat das Buch zumindest gut gefallen. Silvia auf Leckerekekse hat die Autorin zum Buch befragt. Und Marc hat seine überwiegend positiven Eindrücke auf Lesen macht glücklich zusammengefasst. Eine weitere Rezension von Katja findet ihr auf Zwischen den Seiten.
Als nächstes werde ich Juliana Kálnay mit „Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“ lesen. Auch etwas Fantastisches, Surreales, ich bin gespannt.
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Julia Weber – Immer ist alles schön
Limmat Verlag 2017, 256 Seiten, gebunden, 30 Zeichnungen, € 24,-
Liebe Petra! Bei mir hat es „Immer ist alles schön“ ja sogar auf die Nr. 1 geschafft – obwohl mir das mit den Wortwiederholungen und der manchmal etwas über-gestelzten Sprache auch aufgefallen ist. Für mich hatte das aber eher den Effekt wie ein Gemälde mit sehr dicken Pinselstrichen und hohen Kontrasten – hat also als Stilmittel funktioniert. Mir ist auch aufgefallen, dass der Roman ab der Mitte ungefähr in Fluss gerät. Während zu Beginn die Stilmittel manchmal noch etwas „ausgedacht“ und hölzern wirken, funktioniert es dann besser, wenn die Autorin sicher auf dem Pfad angekommen ist, den sie beschreiten will. Das ist dann etwas, wo ich mit Debüts auf alle Fälle nachsichtiger bin – was ich aber auch bei Nicht-Debüts arrivierter Autoren manchmal beobachte, dass man die „Brücke“ irgendwo hin noch bemerkt.
So oder so finde ich es echt interessant, wie unterschiedlich die Leseeindrücke ausgefallen sind! Herzliche Grüße und einen schönen Sonntag!
Friederike von frintze
Liebe Friederike, ich finde es auch spannend, wie unterschiedlich die Bücher dieses Jahr aufgenommen werden. Besonders auch die beiden „schwierigen“. Mir war durchaus bewusst, dass „Immer ist alles schön“ teilweise auch sehr gut aufgenommen wurde. Nicht umsonst ist Julia Weber ja damit auch auf die Shortlist zum Schweizer Buchpreis gekommen. Für mich war die Sprache auch nicht das Hauptproblem, auch wenn ich nie den Verdacht los wurde, hier will jemand besonders „anspruchsvoll“ schreiben. Für mich waren einfach die Figuren in ihren Denk- und Handlungsstrukturen völlig unglaubwürdig. Und das ließ sich für mich mit dem ernsten Thema der Vernachlässigung nicht vereinbaren. Ich kann aber durchaus verstehen, wenn das andere LeserInnen ganz anders sehen. Da gelang einfach der von dir angesprochene Fluss. Wie schön, dass Literatur so vielfältig ist wie ihre Leser und so viel Möglichkeiten zum Austausch bietet. Ich grüße dich ganz herzlich und wünsche ebenso einen angenehmen Sonntag. Petra
Bin nun auch durch und hin- und hergerissen. Einerseits bin ich bei den Kritikpunkten ganz auf deiner Seite, sehe es aber nicht so streng, da die Sprache einen guten Kontrast zum Inhalt bietet. Andererseits ist die Geschichte an sich schon sehr düster und nimmt mich als Papa von zwei kleinen Kindern ganz schön mit. Bei mir ist es wohl halb Kritik halb Lob 😉 Besprechung bei mir im Lauf der Woche.
Liebe Grüße
P.S. ein realistisches Buch ist es natürlich nicht und vielleicht noch ein Nachsatz um das vorige besser zu verstehen. Ich bin eine realistische Autorin, die mit der Poetik nicht allzu viel auf dem Hut hat und von Beruf bin ich Psychologin und Psychotherapeutin, also mit vernachläßigten Kindern und überforderten Mütter eigentlich sehr vertraut. Vielleicht hat es mir deshalb so gut gefallen!
Letzten Endes kann man manchmal gar nicht so genau erklären, warum ein Buch berührt und warum nicht, so sehr man es auch versucht. Das ist doch auch etwas Schönes, das jeder Leser etwas anderes darin sieht. Für mich hat es einfach nicht gepasst. Viele Grüße!
Hallo Eva,
und bei mir ist es die Sicht eines Vaters von zwei Kindern, was für mich das Pendel Richtung positive Beurteilung schlagen lässt. Muss aber erstmal ein, zwei Nächte darüber schlafen, um das Gelesene verarbeiten zu können.
Mich persönlich (Mutter von drei Kindern 😉 ) hat tatsächlich besonders (eigentlich ausschließlich) die „Mutter“passage berührt. Da klang die Stimme überzeugend. Die Kinder wiederum überhaupt nicht. Interessant!
Es hat mir nicht nur gut, sondern so gar außerordentlich gut gefallen, erstens wegen der poetischen Sprache und dann hat es etwas, das ich bisher noch nirgends wo gelesen habe, schon der erste Satz, wo sich das Kind einen Sommer ohne Alkohol wünscht und bekommt es nicht oder die Vergleiche eines Sozialarbeiters mit einem Riesen, fǘr mich ist es bis jetzt das beste Buch, allerdings habe ich zwei noch nicht gelesen, liebe Grüße aus Wien
Liebe Petra, deine Kritikpunkte entsprechen genau meiner Stellungnahme zu dem Buch. Und es gibt ein anderes Buch bei den Debüts, wo mir bei ähnlich schlimmer Thematik, doch zumindest die Sprache origineller und besser gelungen erscheint. Für Kalnay wünsche ich dir Vergnügen … bin gespannt, was du dazu sagst.
Viele Grüße!
Liebe Marina, ich bin ganz froh, dass es nicht nur mir so mit dem Buch geht. Jetzt gehe ich erst mal zurück in Haus Nr. 29. Schöne Grüße!
Hallo Petra,
bei diesem Buch bin ich mir mit meiner eigenen Bewertung noch ganz unsicher. Deine Argumente sind schlüssig, und doch hat mich das Buch berührt. Vor allem in dem letzten Teil, als sie alleine in der Wohnung waren. Ich werde mir mit der Rezi noch etwas Zeit lassen.
Viele Grüße
Silvia
Wenn einen ein Text berührt, dann sieht man auch eher über Dinge hinweg. Mich haben die stilistischen Einwände so gestört, dass ich mich nie habe berühren lassen können. Aber es ist ja schön, dass Bücher bei verschiedenen Lesern so unterschiedlich wahrgenommen werden. Bin auf deine Endbewertung gespannt. Viele Grüße!