Nachdem das erste Buch der Shortlist für den Bloggerpreis „Das Debüt“ mich doch weitgehend und umfassend enttäuscht hat (Julia Weber – Immer ist alles schön) bin ich ein wenig zögerlich an das zweite Buch herangegangen. Denn auch wenn eine Bloggerkollegin mir „Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“ von Juliana Kálnay empfohlen hat, ist doch der Inhalt eigentlich so gar nicht meins. „Surreale und groteske Motive“, von einem „schillernden Fantasie-Universum“ ist da die Rede. Bekennende Anhängerin der realistischen und gern auch ein weniger artistischen Erzählweise, die ich bin, hat mich das ein wenig abgeschreckt.
Doch schon nach wenigen Seiten schwand mein Widerstand gegen das Buch fast ganz dahin.
Was für eine verrückte Geschichte! Erzählt wird von der Hausgemeinschaft Nr. 29. Wo dieses Haus zu finden ist wird genauso unerwähnt gelassen wie Zeit und Umfeld. Zwar stehen wir auch mal gegenüber auf der Straße oder im Garten, aber die meiste Zeit verbringen wir mit der Erzählstimme im Inneren. Die Erzählstimme selbst ist auch so ein unbestimmtes und unzuverlässiges Ding. Sie wechselt von Kapitel zu Kapitel, und dieses Kapitel sind extrem kurz, manchmal nur eine, meist zwei, drei oder vier Seiten lang. Zwar werden den Abschnitten zur besseren Orientierung Überschriften gegeben wie: Erdgeschoss rechts oder 3. Stock links, aber auch wenn wir dann ungefähr wissen, in welcher Wohnung wir uns befinden, müssen wir Leser uns erst nach und nach zurechtfinden und zusammenpuzzeln, wer denn nun hier wohnt oder einen Besuch abstattet oder auch nur von den dort lebenden Bewohnern erzählt. Selbst wenn wir wissen, wo im Haus wir uns befinden, ist noch lange nicht klar, wer spricht. Die Protagonisten besitzen meist sowohl eine Ich-Stimme als auch wird von ihnen in der dritten Person berichtet. Und dann ist da noch der Klatsch und Tratsch. Denn natürlich wird auch geredet über die anderen, gerne ganz klassisch im Treppenhaus.
Ein Großteil des Vergnügens, den der Roman bereitet, besteht in dem Versuch, Ordnung in dieses Haus-Chaos zu bringen. Die Bewohner den Wohnungen zuzusortieren, ihre Beziehungen zueinander aufzudröseln, die Menschen im Haus überhaupt einmal kennenzulernen, zu benennen. Das alleine ist schon eine schier unlösbare Aufgabe, denn zu ihnen gesellen sich noch diffuse, nicht näher charakterisierte Gruppen wie „die Kinder“ (die öfter auch die Wir-Perspektive einnehmen) oder „die chronisch Schlaflosen“, zum Stimmengewirr beitragen. Klingt das alles schon kompliziert und verworren genug, macht es die Sache auch nicht einfacher, dass die Bewohner von Haus Nr. 29 allesamt sehr skurrile Typen sind und ihre Leben stark ins Fantastische abkippen.
Da ist zum Beispiel Lina, deren Mann Don offiziell „verschwunden“ ist, der sich aber („Lina hatte sich schon immer einen Garten gewünscht) in einen Baum verwandelt hat und nun von seiner Frau liebevoll umsorgt auf dem Balkon wächst und gedeiht. Aus seinen Früchten kocht Lina leckere Marmelade fürs ganze Haus und hat auch Zärtlichkeiten und gar Sex mit ihrem Baum. Der vierte Stock ist unbewohnt, nachdem die Wills, eine Familie, die nie jemand zu Gesicht bekommen hat, die man immer nur hörte, schließlich gänzlich verschwanden, genauso wie die Morans im Souterrain, die in völliger Dunkelheit lebten, und Oskar in der Nebenwohnung, der nach der Begegnung mit einem geheimnisvollen Wesen in seiner Wohnung (was es war, wird wie so manches im Buch nie aufgeklärt) das Haus verlassen muss. Ronda im ersten Stock liebt ihr Aquarium, bis eines Nachts die Fische darin beginnen, kollektiv Selbstmord zu begehen und aus dem Wasser zu springen. Es gibt Zwillinge, die man aber noch nie zusammen gesehen hat und von denen der eine eines Tages erschlagen unter einem Bücherregal liegt. Und es gibt Maia, mit deren Verschwinden das Buch beginnt.
„Als Maia verschwand, hatten wir uns zuerst nichts dabei gedacht. Maia verschwand des Öfteren. Manchmal auch für längere Zeit.“
Maia ist wohl ein kleines Mädchen, man weiß es nicht genau. Denn sie gräbt am liebsten Erdlöcher, in denen sie gerne auch mal Tage verbringt. Der Übergang ins Tierreich ist hier genauso rätselhaft und selbstverständlich wie bei Don, dem Baum. E. wiederum ist hoffnungslos verliebt in Lina. Die Rolmars im zweiten Stock sind eine Familie mit drei Kindern, es gibt aber auch noch die Familie von Nina und ihrem kleinen Bruder Mo, deren Eltern eines Tages verschwinden, und wenn Nina sich mal amüsieren will, steckt sie Mo einfach stunden-, tage-, monatelang(?) in den Schrank.
„Die Kinder“ des Hauses, denen ich die übergeordnete Erzählstimme am ehesten zuordnen würde, stehen den lieben langen Tag vor dem Kellerabgang und verbrennen Dinge im Grill. Ein wenig Ordnung in den Wirrwarr des Hauses scheint Rita zu bringen. Ihr ist der Prolog gewidmet. Und wenn sie in diesem auch zugibt „Denn alles habe ich nicht gesehen in diesem Haus“, so ist sie doch diese Instanz, die es in fast allen Häusern zu geben scheint und die alles weiß. Sie sitzt auf ihrem Balkon, den sie mit einem Spiegel ausgestattet hat, damit sie, ohne aufzustehen, auch die Straße im Blick hat. Sie redet mit den Bewohnern, sie lebt hier, seit sie geboren wurde. Als Rita stirbt, bricht auch das Gefüge des Hauses endgültig zusammen. Es wird ein Raub der Flammen.
Auch wenn, wie gesagt, ein Großteil des Vergnügens darin besteht, sich dieses Haus als Leser anzueignen, in eine Ordnung zu bringen ( ich habe es mir tatsächlich aufgemalt), muss man sich doch auch auf seine Unordnung, auf seine verspielte Fantasie und grotesken Figuren einlassen. Es hat mich sehr an die Wimmelbilder von Rotraut Susanne Berner erinnert, in deren Häusern auch die unterschiedlichsten (aber deutlich weniger surrealen) Figuren herumwuseln.
Welche Vorbilder für Juliana Kálnays Roman Pate standen, gibt sie in ihrer Nachbemerkung an. Passagen ihres Romans sind Pastiches, also Nachahmungen, von Texten z.B. James Joyces, Julio Cortázars oder auch Georges Perecs. Alles Autoren, die auf der Grenze von Realität und Fiktion balancieren. So ist der schmale Roman eben auch als Spielerei, als Reminiszenz an literarische Vorbilder zu lesen. Eine wirkliche Handlung, gar eine Aussage oder ein direkter Erkenntnisgewinn ist davon nicht zu erwarten. Eigentlich Dinge, die es für mich bei der Lektüre braucht. Juliana Kálnay umschreibt deren Fehlen aber so raffiniert, charmant und amüsant, dass „Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“ doch zur lohnenden Lektüre wurde.
Marina von Literatur leuchtet, Silvia von Leckerekekse , Marc von Lesen macht glücklich und Katja von Zwischen den Seiten haben das Buch auch bereits rezensiert.
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Juliana Kálnay-Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens
Verlag Klaus Wagenbach Quartbuch. 2017, 192 Seiten, Gebunden, 20,– €
Ist ein tolles Buch
https://literaturgefluester.wordpress.com/2017/02/18/eine-kurze-chronik-des-allmaehlichenverschwindens/
Und sehr außergewöhnlich!
Ein sehr ungewöhnliches Buch!
Das stimmt. Ohne den Debütpreis hätte ich das sicher nicht gelesen. Viele Grüße!
Wie schön, dass es dir gefällt, Petra! Stimmt. Mit „was will uns die Autorin damit sagen“, kommt man hier nicht weiter. Was aber definitv der Fall ist, ist, dass das Buch sehr lange nachhallt. Ich habe es ja bereits kurz nach erscheinen im Frühjahr gelesen und weiß trotzdem alles noch haargenau.
Leider bin ich mit Reisinger inzwischen auch unglücklich. Hatte mich am Anfang noch gefreut, aber mittlerweile geht mir die Sprache auf die Nerven, ähnlich wie bei „Immer ist alles schön“ … Mal sehen, was du dazu sagst …
Viele Grüße!
Oje, das nehme ich mir als nächstes vor… Ich habe erst einmal eine Pause gemacht und mal etwas klassischeres gelesen ? Viele Grüße!