„A tree grows in Brooklyn“, Ein Baum wächst in Brooklyn, jener erste Roman von Betty Smith aus dem Jahr 1943, ist einer der Kultromane der US-amerikanischen Literatur und kann dort durchaus in einem Atemzug genannt werden mit etwa „To kill a mockingbird“ oder „Catcher in the rye“. Für den Pulitzer-Prize nominiert, wurde er 1945 sehr erfolgreich von Elia Kazan verfilmt. Mir waren tatsächlich weder Buch noch Film bekannt.
Es ist ein sehr amerikanisches Buch und einer der Gründe für den durchschlagenden Erfolg bei der Erstveröffentlichung war sicher der Umstand, dass es als eines der Bücher der Armed Service Editions den Soldaten während des Zweiten Weltkriegs zur Verfügung gestellt wurde und bei diesen auf große positive Resonanz stoß. Tatsächlich findet man im Buch „typisch amerikanische“ Tugenden wie den Willen zum Aufstieg, das Streben nach Glück, die Beharrlichkeit gegenüber widrigen Umständen. Bei all den nicht verschwiegenen dunklen Seiten wie Armut, Alkoholismus, Ausbeutung und sexuelle Gewalt ist das Buch doch geprägt von einem großen positiven Geist, von Optimismus und der Fähigkeit der Protagonisten auch im größten Elend noch ein wenig Glück und Lebensfreude zu finden. Das ein oder andere Klischee, gerade auch was die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, Juden, Deutsche, Iren, Italiener, betrifft, ist sicher zu finden. Auch stehen im Mittelpunkt wie so oft die „starken Frauen“. Darüber hinaus behandelt es aber gerade auch die Geschlechterfragen auf eher unkonventionelle Weise und ist auch in der Charakterzeichnung durchaus ambivalent.
Hauptprotagonistin, an der der Roman immer ganz dicht dran bleibt, ist die zu Beginn elfjährige Francie Nolan. Es ist das Jahr 1912 in Williamsburg, Brooklyn, New York und das Mädchen lebt unter sehr ärmlichen Bedingungen zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Neeley, der pragmatischen, entschlossenen Mutter Katie und dem träumerischen, schwachen, dem Alkohol ergebenen, aber auch sehr liebevollen Vater Johnny in einem Mietshaus in diesem damals hauptsächlich von Iren, Juden und Deutschen bewohnten Viertel. Johnny stammt aus Irland, Katie von österreichischen Einwanderern ab. Eine der großen Stärken des Buches ist, diese bunte Nachbarschaft zwar nicht ohne einige Klischees (die aber nun mal, sonst wären sie keine, oftmals zutreffen), aber doch sehr differenziert, authentisch und lebensnah darzustellen.
Bereits das Eingangsbild, in dem das Mädchen auf der Feuerleiter sitzt und liest (sie hat sich vorgenommen, alle Bücher der Stadtteilbibliothek von A-Z zu lesen, jeden Tag ein Buch als Flucht vor der gar nicht so rosigen Realität, aber auch als Teil ihres Bildungsprogramms) und dabei in die Krone des im Hof wachsenden Götterbaums schaut, setzt einen starken Akzent: Ist doch dieser Götterbaum ein sehr robuster Kerl, der sich auch unter widrigsten Bedingungen durchsetzen kann, „sogar durch Zement wächst“, selbst als er entfernt wurde, weil er die Hausfrauen bei der Wäsche störte, sich noch aus Resten des Wurzelstocks wieder hocharbeitet. Eigenschaften, die auch den Bewohnern Williamsburgs von Nutzen sind.
Und so begleitet das Buch Francie und ihre Familie – neben Vater, Mutter und Bruder gibt es noch Tante Evy und die schillernde Sissy nebst Männern und die Großeltern, von denen besonders die resolute Mary für Francie von Bedeutung ist – von ihr stammt die Anweisung an ihre Tochter Katie, den Kindern jeden Tag eine Seite aus der Bibel und eine Seite Shakespeare vorzulesen. Bildung wird schon früh als Ausweg aus den Klassenbeschränkungen gesehen.
Mit einem kleinen Ausflug in die Zeit des Kennenlernens von Katie und Johnny und die frühe Kindheit von Francie und Neeley bewegt der Roman sich zwischen den Jahren 1912 und 1918. Höhen und Tiefen einer Familie, der Kampf ums Überleben, hauptsächlich von der Mutter geführt, der Kampf gegen Enttäuschung und den Alkohol, dem er schließlich erliegt, beim Vater. Für die Kinder ist es in erster Linie ein Kampf um Bildung, um den Schulbesuch, wo doch jeder verdiente Penny für die Familie zählt. Für Francie ist es zudem der Kampf um so etwas wie Selbstbehauptung und Emanzipation, deren Durchsetzung zu dieser Zeit freilich noch weit entfernt war. Aber es war zumindest im Krieg auch die Zeit der ersten Chancen für Frauen für so etwas wie angemessenes Einkommen und ein selbstbestimmtes Leben. Auch Fragen der Moral und der Sexualität werden im Buch in überraschend unkonventioneller Weise verhandelt.
Der Ausgang des Buches ist erwartungsgemäß hoffnungsvoll. Nicht rosarot, dazu haben Francie und ihre Mutter, aber auch ihre Tanten Eva und Sissy zu viele Rückschläge hinnehmen müssen. Francie, die schon früh erwachsen werden musste, wird in ihrer ersten Liebe bitter und prosaisch enttäuscht, Katie muss nach Johnnys Tod ihren Mann alleine stehen, Evys Mann verschwindet und Sissy hat drei Ehen und zehn Totgeburten hinter sich. Die Hoffnung liegt freilich bei allen in der Verbindung zu neuen Männern, in der Familie. Das zu kritisieren, hieße die damaligen Realitäten zu verkennen.
Das Buch ist konventionell geschrieben, sein Inhalt ist nicht revolutionär oder neu, aber es ist so schön, aufrichtig und warmherzig geschrieben, verschließt bei allem Optimismus nicht die Augen vor der Realität, ist ein großes Loblied auf Bildung und nicht zuletzt Literatur – ein Buch, das es auf jeden Fall wert ist, auch hier bei uns (neu) entdeckt zu werden. Gerade auch jetzt in der Weihnachtszeit.
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Betty Smith – Ein Baum wächst in Brooklyn
Insel Verlag Oktober 2017, Gebunden, 621 Seiten, € 25,00
Ich danke dem Insel Verlag für das Rezensionsexemplar!
Beitragsbild: Wonders of our great metropolis, sky-scrapers and Great Bridge from Brooklyn, New York City 1904 by Wikimedia Commons
A Tree Grows in Brooklyn by Debra McCraw (CC BY-SA 2.0) on Flickr
Davon hat mir lustigerweise erst gestern eine Kollegin vorgeschwärmt.