David Constantine ist ein britischer Autor Jahrgang 1944, der dreißig Jahre in Oxford und Durham gelehrt, deutsche Klassiker ins Englische übersetzt und anschließend fast zehn Jahre eine Literaturzeitschrift herausgegeben hat. Daneben entstanden ein Roman und zahlreiche Gedichte und Kurzgeschichten, von denen eine sogar recht prominent mit Tom Courtenay and Charlotte Rampling verfilmt wurde („45 years“)
Warum kenne ich diesen Autor so gar nicht? Das liegt daran, dass von seinem Werk anscheinend mit Ausnahme eines Gedichtbandes bisher nichts ins Deutsche übersetzt wurde. Short Stories gelten hierzulande oft als schlecht verkäuflich. Lyrik sowieso. Und tatsächlich bin auch ich eher eine Anhängerin der längeren Form. Aber welch ein Versäumnis! Und wie verdienstvoll vom Verlag Antje Kunstmann, dies nun mit einer Sammlung von siebzehn Erzählungen nachzuholen.
Sucht man nach gemeinsamen Motiven in diesen Geschichten, die immerhin in einer Zeitspanne von zwanzig Jahren entstanden, wird man dennoch recht bald fündig. Eine große Rolle spielt in allen von ihnen die Natur, die rauen Landschaften Nordenglands und Wales mit ihrer wilden Schönheit, ihren Mooren und immer wieder den Wasserlandschaften, sei es am Meer oder an Flüssen und Seen. Städte treten zurück, Manchester wird nur einmal als Herkunftsort erwähnt.
Die Natur bietet den Figuren, die allesamt auffallend vereinzelt sind, auch wenn sie durchaus in Gemeinschaft leben mögen, eine Zuflucht, einen Trost, wenn sie auch niemals sanft und lieblich, sondern immer auch ein wenig bedrohlich daherkommt. Das Wasser ist das vorherrschende Element, sei es als aus geborstenen Leitungen quellendes und in eisiger Kälte gefrierendes, sei es als Wattenmeer mit tückischen Gezeiten oder als mächtiger Stausee, der einst ein ganzes Dorf und mit ihm das Wohnhaus des Dichters Shelley begrub. Der Dichter Shelley geistert durch eine Geschichte so wie Dante oder Calvino durch andere. Die Romantik behauptet ihren Platz in den Erzählungen und so mischt sich, wenn auch sehr dezent, auch ein wenig Mystisches hinein, wie ein Wunschbrunnen, das versunkene Dorf, Schiffsbrüche und Treibgut. Der Grundton ist ein sehr melancholischer.
Worum es in allen Geschichten geht, ist die Trauer, frisch erlebte oder lang zurückreichende, und die Risse, die sich in den Beziehungen zwischen den Menschen auftun. Oder aber auch in den Menschen selbst.
In der längsten der Erzählungen, „Eine Insel“ betitelt, lesen wir die Briefe eines Mannes – die Protagonisten sind bevorzugt Männer in bereits fortgeschrittenem Alter – an eine Frau, die ihn verlassen bzw. gar nicht erst erhört hat, über ihr Verhältnis erfahren wir weiter nichts. Der Mann hat sich im Herbst auf die Scilly-Island, eine Gruppe kleiner Inseln vor Cornwall, auf denen auch der Autor zeitweise wohnt, zurückgezogen, lebt dort in einer Hütte auf einem Campingplatz und erledigt anfallende Arbeiten gegen freies Logis. Es passiert nicht viel in diesen fünfzig Seiten und doch ist diese Geschichte in ihrer Intensität und leisen Dramatik so ergreifend, wie ich schon lange keine mehr gelesen habe.
Dasselbe ließe sich über „Mr. Carlton“ sagen, eine Geschichte in der nach der Beerdigung seiner Frau der Witwer mit dem Auto gen Norden aufbricht, fort von seinen Kindern. Die Fahrt, die etwas von einer Flucht hat, deren Ursache oder Ziel im Dunkeln bleiben, endet zunächst in einem Stau. Ein Unfall, die Landung eines Rettungshubschraubers verhindert die Weiterfahrt. Mr. Carlton beobachtet ein älteres Ehepaar in seinem Haus nahe der Autobahn, spricht mit einem Mann, den seine Frau verlassen hat, und einer jungen Schwangeren, die sich fürchtet. Weiter nichts. Und doch ist auch diese Geschichte so intensiv und berührend, man kommt den Figuren so nah.
Die verfilmte Geschichte „In einem anderen Land“, die auch der englischen Originalausgabe des Erzählungsbands den Titel verlieh, in Deutschland aber wegen des gleich betitelten Hemingway Romans wohl nicht namensgebend wurde, erzählt von einem älteren Ehepaar. Der Mann erhält einen Brief, der ihn tief erschüttert und die Beziehung zu seiner Frau, ja sein ganzes Leben in Frage stellt. Vor fünfzig Jahren war er mit seiner damaligen Liebe, der Deutschen Katja, nur ganz subtil erfährt man, dass sie Jüdin war, dass man sich zeitlich damals während der Naziherrschaft befindet, auf einer Alpenüberquerung. Katja stürzt in eine Gletscherspalte und bleibt verschollen. Nun hat man ihre Leiche nach all der Zeit durch abschmelzendes Gletschereis bergen können. Ein Ereignis, das den Mann zurückschleudert in seine Vergangenheit und durch seine Reaktion seine jetzige Ehefrau tief verletzt.
cc-by-sa/2.0 – © Derek Voller – geograph.org.uk/p/5170470
David Constantine schaut genau hin auf seine Figuren, er tritt ihnen aber nie zu nahe. Er agiert vorsichtig, tastend, forschend. Die Erzählungen sind alle sehr leise, dezent und sensibel, haben mich aber vielleicht gerade dadurch sehr aufgewühlt.
Es ist Mitte Dezember, meine Jahresbestenliste ist eigentlich schon verfasst. David Constantine hat es geschafft, sie nochmal durcheinander zu bringen. Ihm gebührt nun ein Platz ganz weit oben.
Erwähnenswert ist vielleicht noch die außergewöhnlich schöne Gestaltung des Buches durch den Kunstmann Verlag. Feines Leinen in an das Wattenmeer der Erzählung „Eine Insel“ erinnernder grafischer Gestaltung, hochwertiges Papier und ein passendes Lesebändchen. Jeden Moment, in dem man es in der Hand hält, ein Genuss.
Beitragsbild: North Sea by Nhelia CC0 on Pixabay
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David Constantine – Wie es ist und war. Erzählungen
aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Verlag Antje Kunstmann September 2017, Leinen, 320 Seiten, € 24,00
Deine Rezension ist sehr inspirierend, vielen Dank für den Tipp!
Sehr gerne! Der Autor hat wirklich viele Leser verdient! Viele Grüße!
Schön! Ich bin auch gerade durch Insa Wilke bei „lesenswert“ auf dieses Buch aufmerksam geworden und habe es schon in der Bibliothek vorbestellt. Die Leseprobe hat mir sehr gefallen.
Viele Grüße!
Die Sendung muss ich mir dann unbedingt mal in der Mediathek anschauen, Danke für den Hinweis. Bin gespannt, was du sagst, ich fand viele der Geschichten großartig. Liebe Grüße!
Danke für die schöne Besprechung. Ich kannte den Autor auch noch nicht, aber ich werde mir seine Erzählungen auch besorgen.
Liebe Grüße,
Thomas.
Lieber thomas, das freut mich wirklich sehr und hoffe, dass dir die Geschichten genauso gut gefallen wie mir. Ich bin gespannt, vielleicht kannst du ja mal hören lassen. Der Autor hat die Entdeckung definitiv verdient. Viele Grüße und schöne Weihnachten, Petra
Dir auch ein frohes Weihnachtsfest. Und es gibt so viele Autoren die sich heute noch um die Sprache bemühen, man muss sie nur finden. Deshalb bin ich so froh, dass es Buchblogs wie Deinen gibt die sich die Mühe machen sie zu suchen.
Ich schreibe auch ein wenig über Sprache, Kultur und klassische Literatur. Vielleicht findest Du auf meiner Seite auch etwas Interssantes, würde mich freuen. http://www.der-leiermann.com
Liebe Grüße,
Thomas.