Klaus Cäsar Zehrer – Das Genie

Wer kennt William James Sidis? Seit der Veröffentlichung des Debütromans „Das Genie“ von Klaus Cäsar Zehrer dürften das in Deutschland einige Menschen mehr sein. Ansonsten hinterlässt der Name hierzulande, anders als in Sidis Heimatland USA, meist ratloses Schulterzucken. Dabei zählt der 1898 in New York geborene Sidis mit einem Intelligentsquotienten von geschätzt unglaublichen 250 bis 300 zu den intelligentesten Menschen aller Zeiten. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit hat er sich damit aber nicht in die Wissenschaftsgeschichte und das kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Sein Leben und Schicksal, auf das der Autor Zehrer hier aufmerksam macht, ist ein ganz unglaubliches.

Boris Sidis
Boris Sidis, [Public domain], via Wikimedia Commons
William James Vater, Boris Sidis, war Emigrant aus der Ukraine, der mit nahezu nichts 1887 in New York ankam, verfolgt von der zaristischen Polizei wegen kommunistischer Ansichten, vor allem in Bildungsfragen, und nach einer Inhaftierung. Aus gutbürgerlichem Haus stammend, beherrschte Boris unzählige Sprachen, war von verblüffender Intelligenz und einem anscheinend eisernen Willen und Selbstvertrauen. Trotz aller Widerstände, die dem mittellosen Immigranten ohne jedwede Beziehungen entgegenschlugen, gelang ihm die Aufnahme eines Studiums der Psychologie an der Harvard University, wo er 1897 promovierte. Er avancierte zum erfolgreichen Psychologen und Psychopathologen mit besonderem Interesse an Hypnosetechniken. Der in Mode kommenden Freudschen Lehre der Psychoanalyse stand er sehr ablehnend gegenüber. Nach Studium und Promotion in Medizin leitete er ein psychotherapeutisches Sanatorium in Portsmouth.

William Sidis - Klaus Cäsar Zehrer - Das Genie
William James Sidis anlässlich des Abschlusses seines Studiums 1914,[Public domain], via Wikimedia Commons
Zusammen mit seiner zupackenden Frau Sarah, ebenfalls promovierte, wenn auch nicht praktizierende Medizinerin, erzog er seinen Sohn William James nach einer eigenen, der sogenannten Sidis-Methode, die vor allem eine extreme Form der Frühförderung umfasste. Explizites Ziel war die Hervorbringung eines hochbegabten Kindes. Das Experiment gelang, der kleine Billy konnte mit 18 Monaten lesen, beherrschte mit zwei Jahren Latein und las mit vier Jahren Homer und Caesar im Original. Sieben Monate benötigte er für die Absolvierung der Grundschule, drei für die Highschool und mit acht Jahren erwarb er die Zugangsberechtigung für Harvard, wo er allerdings erst mit elf Jahren ein Studium aufnehmen konnte. Trotz dieser stupenden Begabung verbrachte William James Sidis mit Ausnahme kurzer Lehr- und Forschungstätigkeiten den Großteil seines Lebens als einfacher Büroangestellter, beim Bedienen einer Rechenmaschine. Wie das?

Heutzutage würde man vielleicht von Autismus sprechen, vielleicht auch von Inselbegabung, auf jeden Fall von einem extremen Fall von mangelnder sozialer Kompetenz und gänzlich fehlender Empathie. Kurz: William James Sidis konnte nicht mit anderen Menschen. Ob als Dozent oder wissenschaftlicher Mitarbeiter, ihm gelang die Zusammenarbeit mit anderen nicht. Und in der Forschung kamen ihm ein ums andere Mal, besonders während des Ersten Weltkriegs, seine kommunistischen und streng pazifistischen Ideale in die Quere. Sehr menschenfreundliche, sympathische Ideale eigentlich, aber nicht zeitgemäß und eben von keinem sehr menschenfreundlichen Typ vertreten. Sidis eckte an und war nur glücklich, wenn er sich völlig zurückziehen oder stundenlang mit der Bostoner Straßenbahn durch die Stadt fahren konnte.

A Chelsea-bound streetcar emerges from the East Boston Tunnel at Maverick Square 1904, [Public domain], via Wikimedia Common
Eine große Enttäuschung für seine Eltern, die mit der „Sidis-Erziehungsmethode“ beweisen wollten, dass jedes neugeborene Kind zu einem Genie herangezogen werden konnte. Die emotionalen Aspekte vergaßen sie dabei völlig. Dabei waren viele ihrer Gedanken, wie die frühkindliche Förderung, das spielerische Lernen usw. geradezu revolutionär und auch heute noch topaktuell. William James warf seinen Eltern aber ein Leben lang vor, schuld an seinem persönlichen Unglück zu sein, er sprach sogar von „Folter“ in ihrer Erziehung und hasste sie unversöhnlich. Niemals fasste er so richtig Fuß im Leben, 1944 starb er mit nur 46 Jahren, wie bereits sein Vater, an einer Gehirnblutung. Ohne Versöhnung mit seiner Mutter, deren ablehnende Worte bei seinem Tod wirklich erschütternd sind.

Was für eine Geschichte! Und es ist Klaus Cäsar Zehrer wirklich hoch anzurechnen, dass er sie für Das Genie hervorgeholt, glänzend recherchiert und mit ungeheurer Fabulierlust bunt und süffig auf über 600 Seiten erzählt hat. Man erfährt eine ganze Menge in diesem Buch, das gerade heutzutage, wo so viel auf Frühförderung, Bildung und Selbstoptimierung gesetzt wird, auch einige Denkanstöße gibt.

Warum bin ich dennoch nicht ganz zufrieden mit dem Roman?

Das liegt ein wenig gerade an dieser „Süffigkeit“. Zu routiniert wird dieses Leben heruntererzählt, hangelt sich an den verschiedenen Stationen entlang, erwähnt immer genau die zeitgeschichtlichen Umstände, die man erwartet, nimmt immer genau die Wendung, die der Leser bereits vorhergesehen hat. Da sind trotz der durchaus ambivalent angelegten Charaktere keine Ecken oder Unwägbarkeiten, letztendlich auch keine Entwicklungen. Alles wird irgendwie abgespult.

Ernster wiegt für mich aber noch etwas anderes. Autor Zehrer stammt aus der Sartire-Ecke, hat bereits mit Robert Gernhardt und für die „Titanic“ gearbeitet. Auch in „Das Genie“ ist viel von diesem humoristischen Ansatz vorhanden, zum Amüsement und der Unterhaltung der LeserInnen. Das hat zur Folge, dass die Charaktere bisweilen ziemlich vorgeführt werden, ja geradezu als Freaks präsentiert. Was sie ja durchaus wohl auch ein wenig waren. Der Tragik ihrer Existenz, ihren verzweifelten Bemühungen, den Abgründen in ihren Beziehungen wird das aber in keiner Weise gerecht. Mich hat das letztendlich sehr gestört.

Der Roman ist Siegertitel des Bloggerpreises Das Debüt 2017.

Beitragsbild by geralt Pixabay

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Klaus Cäsar Zehrer - Das Genie

 

 

Klaus Cäsar Zehrer – Das Genie

Diogenes August 2017, Hardcover Leinen , 656 Seiten, € 25.00

16 Gedanken zu „Klaus Cäsar Zehrer – Das Genie

  1. Liebe Petra,
    interessante Rezension. Finde es ja immer spannend von solchen Menschen und Familiengeschochten zu lesen. Ich fand Deinen Kritikpunkt am Ende aber auch sehr wichtig und letztlich würde es mich abhalten diese Buch zu lesen. Die Geschichte und mehr über diese Menschen zu erfahren, finde ich aber weiterhin spannend.
    Liebe Grüsse
    Isabel

    1. Liebe Isabel! Dieses Buch hat ganz viele Liebhaber und die Geschichte ist auch sehr spannend. Meine Kritik ist sehr persönlich, hat mich aber davon abgehalten, dieses Buch wirklich zu mögen. Dir noch einen schönen Sonntag. LG Petra

  2. Gerade selbst dieses Buch beendet. Ja: Zu routiniert trifft eines seiner Probleme. Außerdem fehlt dem Roman die Konstanz. Ohne dass der Erzähler jemals als unzuverlässiger oder auf einzelne Charaktere fokalisierter präsentiert würde, macht er sich bei Gelegenheit gern die Haltung seines Personals komplett zu eigen: etwa die Theorie vom Subwaking Self, besonders, wenn es darum geht politische Ansichten zu präsentieren. Wie sich diese tatsächlich entwickeln wird unterschlagen, man muss sie entweder für richtig halten, weil von „Genies“ geäußert, oder für Unsinn, weil die „Genies“ eben so verrückt dargestellt werden. Nur rund um den Gerichtsprozess zum Schluss wird ein Konflikt tatsächlich einmal erzählerisch entfaltet. Spaß macht die Lektüre dennoch, aber vielleicht hätte der Autor sich besser auf ein oder mehrere zentrale Ereignisse aus dem Leben WJ Sidis beschränkt. Hätte Sidis zB einen Sohn gehabt, es hätte keinen guten Grund gegeben den Roman nicht einfach immer weiter fort zu führen. Andererseits: Des Genie scheint als Erfolg am gehobenen Massenmarkt geplant und das ist ungefähr die Art Text, die so einen erzielen kann.
    Bin grade dabei meinen Blog neu aufzubauen & habe auch eine Besprechung zum Genie in der Mache, werde dann diese Verlinken.

    1. Danke, ich werde dann mal vorbeischauen. Ich denke, das Buch hat ein recht großes Lesepublikum erreicht und auch die meisten überzeugt. Gut lesen ließ es sich ja auch, ich teile aber auch deine Ansicht, dass in diesem Fall vllt. ein episodischeres, fokussierteres Erzählen gut getan hätte. Viele Grüße, Petra

  3. Pingback: [Debütpreis 2017] [Rezension]: Klaus Cäsar Zehrer – Das Genie – Lesen macht glücklich
  4. Für mich war das Buch eines der Highlights 2017. Natürlich spielt die Frage des Stils eine Rolle für das Leseerlebnis eines Buches. Für mich aber war die Quintessenz des Buches wichtiger. Und für mich lautet die: Erziehung ist mehr als nur Wissensvermittlung. Soll ein Leben gelingen und ein glückliches Leben sein, dann braucht es eine umfassendere Erziehung. Das Buch führt vor Augen, dass die Mittel von William Sidis sehr beschränkt oder gar nicht vorhanden sind um ein gelungenes Leben zu führen. William Sidis scheitert, weil er zu wenig oder keine Möglichkeiten sich zu ändern. Das ist die eigentliche Tragik, die das Buch gut vermittelt.

    1. Lieber Martin, mich hat auch interessiert, warum das Buch trotz unbestreitbar interessantem Thema und sehr viel begeisterten Reaktionen gerade in der Bloggerwelt bei mir nicht wirklich funktioniert hat. Aber so ist es manchmal (ging mir z.B. bei Kent Haruf oder Benedict Wells genauso). Aber die Tragik einer Erziehung ohne emotionale Nähe wird sehr deutlich. Viele Grüße, Petra

  5. Hallo, danke für deinen text. Find’s immer spannend, wie es anderen beim lesen ging. Aber ich teile deine kritikpunkte überhaupt nicht. Die konventionelle erzählweise war für mich der Geschichte angemessen. Ich war total gespannt, wie es ausgehen wird, dass es tragisch enden würde, war ja klar, aber da ich das leben von sidis nicht kannte, wusste ich nicht, wie er gestorben ist oder ob er vielleicht doch noch mit der frau zusammen gekommen ist oder oder…. also abgespult fand ich es überhaupt nicht. Und für mich hat der Autor auch genau den richtigen Ton getroffen! Von mir gibt’s 100 Punkte für das Buch;-)

    1. Liebe Kat! Das macht tatsächlich einen großen Reiz des Lesens und Bloggens darüber aus, wie unterschiedlich Bücher wirken. Das Genie hat ganz sicher viele begeisterte Leser gefunden und es hat ganz sicher seine Stärken. Leider hat es bei mir nicht so gut funktioniert. Viele Grüße, Petra

  6. Hallo Petra,
    da wird es für mich schwierig, noch weitere Worte zu finden, sprichst du zum Teil auch die Probleme an, die ich ebenfalls mit dem Buch hatte. Das mit dem Vorführen ist mir gar nicht so aufgefallen.
    Hast es wirklich schön in Worte gefasst.

    Liebe Grüße
    Marc

  7. Liebe Petra,

    Deine Kritik an dem Buch teile ich – ich fand es konventionell erzählt, streckenweise auch etwas zäh. Und ja, der Gedanke, dass durch manche Überspitzung die eigentlich tragischen Figuren eher ins Karikaturhafte geraten, das hat mich auch sehr gestört. Ich fand durchaus, dass es bessere Debüts im vergangenen Jahr gab.

    Herzliche Grüße, Birgit

    1. Liebe Birgit, lieber Marc und liebe Julia, mir ist zunächst auch nicht aufgefallen, was mir so ein gewisses Unbehagen bei der ja eigentlich unterhaltsamen Lektüre bereitet hat. Aber zunehmend hatte ich das Gefühl die Protagonisten gegenüber ihrem Autor direkt in Schutz nehmen zu müssen. Als ob da jemand auf Kosten Schwächerer eine gute Geschichte erzählen wollte. Ich bin froh, dass nicht nur ich da so ein Gefühl hatte. Viele Grüße!

  8. Hey 🙂

    Interessant und ausführlich dargelegte Meinung zu diesem Buch. Für mich war es ein Jahreshighlight 2017. Ich finde es interessant, dass du den manchmal humoristischen Tonfall der Erzählung als störend empfunden hast. Bei mir war genau das Gegenteil der Fall: Gerade durch diese Art des Erzählens haben die Figuren noch tragischer gewirkt und das Ganze hat einen viel bleibenderen Eindruck hinterlassen, als wenn der Schreibstil das Geschehen zu jeder Zeit widergespiegelt hätte.
    Andererseits verstehe ich den Vorwurf, dass es etwas abgespult wirkt. Obwohl ich das Buch an einem Tag inhaliert habe, hat genau das mich auch beim Lesen manchmal gestört und ich habe unterbrochen, weil es nichts wirklich gab, was mich vorwärts getrieben hat.

    Für einen Debüt-Roman ist das auf jeden Fall eine starke Leistung!

    Liebe Grüße,
    Julia

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