Sabine Huttel – Ein Anderer

Rezension zu Sabine Huttel – Ein Anderer

Er ist anders, der Junge Ernst Kroll, der zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in einem kleinen thüringischen Dorf geboren wird. Er wächst zu langsam, hat motorische Defizite, spricht schlecht und scheint auch geistig eingeschränkt zu sein. Sehr zum Ärger seines Vaters Hilmar, des Schulmeisters im Dorf. Diese Langsamkeit regt ihn auf, erweckt seinen Unmut. Nur sehr allmählich, über die Musik, nähert er sich seinem Sohn an. Er, der auch Kantor der Gemeinde ist, nimmt ihn mit auf die Orgelempore. Und auch wenn Ernst die Stücke viel zu langsam spielt, auch später auf seiner Trompete nur die eher getragenen Stücke schafft, knüpft die Musik ein zartes Band zwischen Vater und Sohn. Das allerdings eine harte Belastungsprobe bestehen muss, als der Junge eingeschult wird und der Lehrer-Vater mit unerbittlicher Strenge über ihn wacht.

Schule
Schule by Hans Nater (CC BY-ND 2.0) on flickr

Die Mutter Martha liebt und unterstützt ihren Sohn. Aber es ist auch immer ein wenig Scham mit dabei. Darüber, dass Ernst so langsam ist, so undeutlich spricht, spuckt und sabbert und eben auch anders aussieht, als andere Kinder. Er ist klein und Wasserablagerungen verformen sein Gesicht.

Die Dorfgemeinschaft nimmt Ernst, so wie er ist, manche freundlicher als andere. Die Kinder hänseln ihn ein wenig, einige Erwachsene schauen geringschätzig auf ihn herab, aber er gehört dazu. So wie es eben immer schon, gerade auf dem Land die „Dorftrottel“, „Dorfdeppen“ gegeben hat. Verschmäht, manchmal auch gequält, aber irgendwie eben auch Teil der Gemeinschaft.

Keiner von ihnen weiß oder macht sich darüber Gedanken warum der Junge so ist, wie er ist, dass Ernsts Anderssein auf einem Mangel an Schilddrüsenhormonen beruht, wahrscheinlich schon in der Schwangerschaft der Mutter und nun bei ihm selbst. Gerade in Deutschland gab und gibt es große Gebiete, die Jodmangelgebietesind und wo diese durch einen dadurch bedingten Thyroxinmangel hervorgerufenen geistigen und körperlichen Retardierungen gehäuft auftraten.

Aber die Wissenschaft schreitet voran, ein auswärtiger, junger Arzt erkennt Ernsts Symptome und behandelt ihn mit rohen Schafsschilddrüsen. Keine schöne Therapie, besonders, weil sich Ernst dadurch völlig verändert, unruhig und fahrig wird, sogar aggressiv. Der Doktor, der auch mit merkwürdigen Parolen, die zunehmend kursieren, vom „unwerten Leben“, der „Belastung“ durch Pflege und Unterbringung „unheilbarer Blödsinniger“ in „Idiotenanstalten“, in Erscheinung tritt, verschwindet zum Glück bald wieder aus dem Dorf. Er hat höhere Ambitionen. Aber zum ersten Mal bekommt Schulmeister Hilmar Kroll Angst um seinen Buben. Eine Angst, die bald unter der nationalsozialistischen Herrschaft noch steigen wird. Es weht ein neuer Wind.

Ernst selbst leidet schon unter seiner Andersartigkeit, ist manchmal traurig, manchmal wütend, wenn die anderen ihn drängen oder auslachen. Aber er findet auch schöne Momente im Leben, wenn er die warmen Sonnenstrahlen spürt, wenn er seine Hühner füttert und ihnen von seinem Tag erzählt, wenn er auf die Anhöhe klettert und Trompete spielt. Aber auch, wenn er die Freundlichkeit und Zuneigung spürt, die ihm zum Beispiel seine Schwester Helene entgegenbringt oder die Kusine Regine oder der Nachbar Herbert Bogenschnitzer oder der Pfarrer Stürzlinger.

Wiese an der Alsenz by ( CC BY-SA 3.0) via Wikimedia Commons

Und so begleiten wir Ernst durch sein Leben. Erster und Zweiter Weltkrieg gehen an dem kleinen Dorf relativ spurlos vorbei, Deutschland wird geteilt, aber für Ernst bleibt das Leben fast unverändert. Er braucht seine Routinen, die vertraute Umgebung und die Menschen um ihn herum. Umso einschneidender für ihn, als die Mutter mit ihm zur Tochter in die BRD umsiedeln möchte. Da ist sie schon weit über siebzig und sorgt sich nicht nur um ihre, sondern auch um Ernsts Zukunft. Ein Neuanfang in der hessischen Provinz. Aber das Leben geht weiter. Irgendwann fällt die Mauer. Fast ein ganzes Jahrhundert erlebt Ernst und der Leser mit ihm.

Sabine Huttel führt uns in Ein Anderer souverän hindurch. Sie erzählt geradlinig, ohne große Experimente, mit großer sprachlicher Schönheit. Die Figurenzeichnungen gelingen ihr hervorragend, ein ganzer Dorfkosmos wird da ausgebreitet, aber keiner der Charaktere kommt flach oder einseitig daher. Der Vater Hilmar zum Beispiel ist ungeduldig und hart zu Ernst, lieblos und schroff zu seiner Frau, aber er kämpft, gerade in der Nazizeit um seinen Sohn, bleibt politisch standhaft, engagiert sich für sein Dorf und liebt die Musik. So sind alle Menschen im Buch sehr vielschichtig angelegt. Gerade auch bei Ernst vermeidet die Autorin, ihn allzu süßlich als armen, herzensguten Behinderten darzustellen. Sie lässt ihm seine Würde genauso wie seine Ecken und Kanten.

Neben der sehr besonderen, persönlichen Lebensgeschichte entsteht ein Panorama der Zeit und des Dorflebens. Da ich bisher weder von Autorin noch vom Verlag Tredition, einem Verlag für Selfpublishing, gehört hatte, war ich sehr positiv überrascht von der hohen Qualität dieses Romans, den ich allen Lesern wärmstens ans Herz legen möchte. Für mich eine wirkliche Entdeckung!

Beitragsbild: Der Grossvater von Ra Boe (Scanns alter Fotos) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons

Weitere Besprechungen findet ihr bei der Buchstabenfängerin , bei Constanze auf Zeichen und Zeiten und bei Marion von Schiefgelesen, die den Roman für den dieshährigen Blogbuster-Preis nominiert hat. Hier findet ihr auch ein sehr schönes Interview, das Marion mit Sabine Huttel geführt hat.

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Sabine Huttel - Ein AndererSabine Huttel – Ein Anderer

Tredition September 2017, Paperback, 392 Seiten, 14,99 €

oder Hardcover 20,99 €

10 Gedanken zu „Sabine Huttel – Ein Anderer

  1. Hallo Petra,
    deine Rezension klingt nach einer sehr interessanten Geschichte. Ich mag besonders, dass sich Vater und Sohn über Musik annähern. Das erinnert mich ein ganz klein wenig an Schlafes Bruder von Robert Schneider, obwohl sich die Geschichte dann ganz anders entwickelt. Ich denke, dass Ein Anderer hiermit auf meine Leseliste gelandet ist.
    Viele Grüße
    Sven

    1. Ja, liebe Constanze. Man findet immer Menschen , die sehr ähnlich lesen. Und trotzdem manchmal anderer Meinung sind. Ich finde das sehr schön. Auf deine Meinung bin ich sehr gespannt. Viele Grüße!

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