Rezension zu Maik Siegel – Hinterhofleben
Das Wort Flüchtling ist wohl eines der im öffentlichen Diskurs am häufigsten verwendeten. Kaum eine Nachrichtensendung, eine Zeitungsausgabe oder Politikerrunde, in der es nicht fällt. Das Thema Flucht und damit auch die Frage nach dem Umgang eben mit jenen Flüchtenden weltweit ist sicher eines der brennendsten Probleme unserer Zeit. Trotz seiner Ubiquität stößt mir dieses Wort immer ein wenig unangenehm auf, finde ich es mit seiner –ling-Endung so viel unpassender als das schöne englische „refugee“, in dem die Zuflucht „refuge“ steckt. Und tatsächlich, meiner sprachlichen Abneigung nachgehend, stellt Wiktionary fest, „Die resultierenden Ableitungen (Anm. mit –ling) können der Sprachökonomie dienen (und damit konnotativ relativ neutral sein), aber auch ironisch, diminutiv oder pejorativ verwendet werden.“ Also steckt die Verkleinerung und Abwertung schon ein wenig im verwendeten Wort mit drin. Der Flüchtling.
Trotz der zentralen Rolle, die er in sämtlichen politischen Debatten und im öffentlichen Diskurs quer durch die Republik einnimmt, trotz der gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen, die sein „plötzliches“ in Erscheinung treten hervorgerufen hat – in der deutschen Gegenwartsliteratur kommt er (noch) kaum vor.
Der junge Autor Maik Siegel hat ihn zum Thema seines Debütromans gemacht.
In eine typische Berliner Hausgemeinschaft am Prenzlauer Berg platzt das Thema in Figur des syrischen Flüchtlings Samih. Inga, eine der Bewohnerinnen, engagiert in der Flüchtlingshilfe, möchte ihn, der sich aufgrund seines in Italien gestellten Asylantrags nach dem Dubliner Übereinkommen illegal in Deutschland aufhält, bei sich aufnehmen. Dafür erbittet sie die Zustimmung der übrigen Hausgemeinschaft, die sich nach der erfolgreichen Vertreibung zweier lautstarker Heavy-Metal-Fans aus einer der Wohnungen gerade zusammengefunden und tatsächlich so etwas wie eine Gemeinschaft gebildet hat. So unterschiedlich wie die Bewohner, so verschieden sind auch ihre Reaktionen auf Ingas Vorhaben.
Der homosexuelle Amerikaner Will, recht umtriebig auf Grindr unterwegs und auch sonst allem gegenüber recht aufgeschlossen, ist sofort dafür. Auch das liberal-bildungsbürgerliche Paar Anne und Sven sind dafür, zu helfen, solange ihrer Tochter, dem Prinzesschen Clara, im Haus gefürchtete Klavierinterpretin, dadurch keine Nachteile entstehen. Auch die beiden Studentinnen Nikola und Julia sind schnell dabei. Ein wenig kritischer sehen die Sache der ältere Schriftsteller Alfons Ott, ein Grantler vor dem Herrn, und das Ehepaar Ute und Günther, Überbleibsel aus der Zeit, als Prenzlauer Berg noch niedrige Mieten hatte, Fensterbankkapitäne und Hausspione aus Leidenschaft. Murrend lassen sie sich aber auf Ingas Vorschlag ein, genauso wie die Inhaberin der Psychologiepraxis im Erdgeschoss. Erbittertste Gegner der Idee sind tatsächlich die Mussawes, schon lange in Deutschland lebende Kenianer, die durch den Zuzug des Syrers Ärger und Scherereien befürchten.
Damit sind Bühne und Besetzung bereit für ein flottes, turbulentes Boulevardstück, das Maik Siegel uns in seinem „Hinterhofleben“ präsentiert. Intrigen werden gesponnen, Gerüchte verbreitet, wechselnde Allianzen geschmiedet. Es werden Liebes- und Freundesbande geknüpft, Feindschaften entstehen oder werden vertieft und der kleine Tumaini Massawe erlebt so manches Abenteuer.
Wie es sich für ein solches Boulevardstück gehört, sind die Figuren und Handlungsabsichten sehr deutlich konturiert, jede erfüllt ihre Rolle, die der links-liberalen Förderschullehrerin genauso wie die der verspießerten Kiez-Oldies. Ihre Auftritte wechseln sich dabei ab, der Leser folgt mal dem einen, mal dem anderen. Dabei werden sie automatisch zu Stereotypen, die möglichst das komplette Spektrum der deutschen Befindlichkeiten und speziell der deutschen Haltungen zur Flüchtlingsfrage, aber auch generell zu Themen wie gesellschaftliche Solidarität, Toleranz und Zivilcourage abbilden sollen. Das ist sehr genau beobachtet, gelingt dem Autor meistenteils ohne belehrenden Zeigefinger und äußerst unterhaltsam. Einiges an Fakten lässt er wie nebenbei einfließen. Dabei hat das Ganze natürlich schon einen gewissen didaktischen Anspruch und wäre meiner Meinung nach ideale Lektüre auch für sehr junge LeserInnen. (Dem widerspricht allerdings ein wenig der Will/Daniel-Strang, explizit die Masturbationsszene)
Richtig sympathisch sind sie allesamt nicht, die Bewohner der Hausnummer 68 (mit Ausnahme des kleinen Tumaini). Aber sie offenbaren mit der Zeit auch andere Seiten. Manch ein Unsympath zeigt doch Herz, manch Redlicher enthüllt seine Abseiten. Schwarz/Weiß gibt es hier nicht. Auch das ein geläufiges Boulevard-Thema. Maik Siegel gestattet seinem Personal aber kein Happy-End. Das ist so mutig wie konsequent. Am Ende sind sie alle durchgeschüttelt, angeschlagen, entlarvt, die Bewohner von Hausnummer 68.
Nur die Linde im Hinterhof, der das Eingangskapitel gewidmet ist (übrigens mein Lieblingskapitel) und die das gesamte Buch hindurch neben dem Haus die versteckte Hauptrolle spielt, sie steht unerschütterlich wie ehedem. Sie ist mehr als nur der Baum im Hinterhof, in dem man sich zum Grillen oder Kartenspielen trifft.
„Die Linde gilt vielen als deutscher Baum. (…) Doch wäre es ein Irrtum, sie deutsch zu nennen. Sie ist ein Weltbaum (…) Sie existiert nicht, die deutsche Linde. Trotzdem glauben viele fest daran, dass es sie gibt.“
„Unbeeindruckt von all dem menschlichen Treiben harrte die Linde inmitten des Berliner Lebens aus, eine unerkannte Fremde, gezüchtet in einer Baumsiedlung nahe Bratislava als eine Kreuzung von Sommer- und Winterlinde. Sie wuchs als Bastard auf fremdem Boden, aber weil dies keiner der Bewohner des Hauses ahnte, störte sich auch niemand daran.“
Deshalb gehört auch das letzte Bild des Romans ihr:
„Und ein Windstoß schüttelte erneut die Linde, wiegte sie, rüttelte an ihren Ästen, bis er schließlich von ihr abließ und sie erstarrte, als wäre nie ein Windstoß durch sie gefahren.“
Bild für Beharrlichkeit oder Gleichgültigkeit – das bleibt dem Leser überlassen.
Beitragsbild: Hof Berlin (CC BY 2.0) via pxhere
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Maik Siegel – Hinterhofleben
Divan Verlag November 2017, Klappenbroschur, 300 Seiten, 15,90 €
Hallo Petra!
Das klingt nach einem sehr interessanten Buch, obwohl ich mir nicht sicher, ob es nicht vielleicht etwas zu viel Stereotypen sind.
Liebe Grüße
Sabrina
Liebe Sabrina, für einen Gesellschaftsroman oder ähnliches bestimmt. Ich habe es dann als heiteres Boulevardstück mit ernstem Thema gelesen. Dann hat es Spaß gemacht. Viele Grüße, Petra
Ohh, das klingt jetzt noch besser als nur nach dem Klappentext aus der Verlagsvorschau. Gott sei dank liet es bereits hier und wird sofort als nächstes gelsen :D. glg Franzi
Liebe Franzi, viel Spaß dabei! Viele Grüße, Petra
Das liegt hier auch schon bereit und nach deiner Rezension gerade, habe ich richtig Lust, das als nächstes endlich zu lesen.
Habe das Buch auch noch auf meiner Wunschliste stehen, deshlab spoilere ich mich nicht, sondern komme wieder, sobald ich es gelesen habe ? was hoffentlich bald der Fall sein wird!
VG Jennifer
Da bin ich gespannt, was du sagst! LG Petra