Mit Zukunftsromanen verhält es sich in der Regel so, dass sie entweder in einer fernen Zukunft spielen und sich der Leser auf ein mehr oder weniger fantastisches Land einlassen muss, mit gänzlich anderen Lebensbedingungen, unterschiedlichen Wertvorstellungen und Konflikten, einem fremden Alltag und ungewohnten Umgebungen. Der Leser muss loslassen können vom Bezugsrahmen der Realität, und sei es nur der angenommenen. Mir fällt das zugegebenermaßen immer schwer, weswegen ich in der Regel mit Science-Fiction und Konsorten meist nicht warm werde. Oder aber der Roman spielt , wie „Eine amerikanische Familie“ von Lionel Shriver in naher Zukunft (und das muss nicht mal unbedingt zeitlich nah sein) und extrapoliert unsere Gegenwart nur ein wenig, überspitzt vielleicht ein bisschen, bleibt aber dabei, das, was heute ist, nur weiterzudenken und weiterzuentwickeln.
Letzteres finde ich weitaus schwieriger. Riskiert der Autor doch die hochgezogene Braue des Lesers, wenn da etwas unplausibel erscheint, Entwicklungen nicht überzeugen, Recherchen nicht gründlich genug betrieben wurden. Ganz davon abgesehen, dass sich solche Literatur naturgegeben schnell überholt. Außerdem neigen solche Romane gerne zu ausufernden Erklärungen und theoretischen Erörterungen, die eben den Weg von unserem Heute zu jenem Morgen nachvollziehbar machen sollen. Meist haben diese Bücher eine Botschaft mahnender Natur: „Seht her, was geschehen kann. Handelt dementsprechend!“
Lionel Shriver ist da ganz deutlich, einmal heißt es in „Eine amerikanische Familie“:
„Geschichten, die in der Zukunft spielen, handeln von den Ängsten der Leute heute. Um die Zukunft selbst geht es gar nicht.“
Und solche Ängste hat die US-amerikanische Schriftstellerin, die die FAZ einmal „Spezialistin für ungeschminkte Wahrheiten“ genannt hat, in ihrem neuesten Roman reichlich versammelt. Im Grunde geht es in „Eine amerikanisch Familie“ um ein Gedankenexperiment.
Was passiert, wenn die restliche Weltgemeinschaft, namentlich Russland und China, der zunehmenden Staatsverschuldung der USA nicht länger tatenlos zuschaut, sondern in einem Putsch gegen die Leitwährung des Dollars eine internationale Reservewährung einführt, den Bancor.
Wir schreiben das Jahr 2029 und die USA haben bereits eine existentielle Krise hinter sich., die sogenannte „Steinzeit“ im Jahre 2024, auch „Steini“ genannt, eine der Albernheiten, die sich das Buch (oder die Übersetzung?) erlaubt. Damals brach die komplette Energie- und Wasserversorgung nach einem Hackerangriff (eine der aktuellsten der oben erwähnten Ängste) zusammen. Mit allen denkbaren Folgen, wie Plünderungen, Massenunfällen, Zug- und Flugzeugkatastrophen, Ausfall der nationalen Verteidigungssysteme und – schlimmstes aller denkbaren Szenarien – dem nicht mehr funktionierenden Internet. Eine schwierige Zeit, aus der sich die USA gerade wieder einigermaßen erholt haben. Zwar gibt es immer noch bei einigen Ressourcen Engpässe, weswegen sich zum Beispiel Trinkwasser, Toilettenpapier und Kaffee (die Arabica-Pflanzen sind nahezu ausgestorben) enorm verteuert haben, aber die Menschen kommen wieder ganz gut zurecht. So auch Florence, die in einer Obdachlosenunterkunft arbeitet, ihr aus Mexiko stammender Lebensgefährte Esteban, der sich auf Abenteuertouren, vor allem für ältere und sehr alte Menschen, von denen es erwartungsgemäß viele gibt, spezialisiert hat, und der äußerst pragmatische Teenagersohn Willing, der sich im Laufe der Geschichte immer mehr zum Hauptprotagonisten entwickelt.
Zunächst einmal lernen wir aber auch die anderen Familienmitglieder kennen, zum Beispiel den stinkreichen Patriarchen des Mandible-Clans, Douglas (96), der einst seine Frau verlassen hat, um mit der jungen, bildschönen Sekretärin zu leben, die nun aber in ihren späten Fünfzigern hochgradig dement und ein absoluter Pflegefall ist. Beide leben in einer luxuriösen Pflegeresidenz. Dann sind da noch Großvater Carter, der erfolglose Journalist und seine Frau Jayne, deren Buchhandlung Pleite ging, weil keiner mehr Bücher oder Zeitungen liest und seitdem jeder nur noch mit seinem ultramobilen fleX hantiert, auch immer weniger Menschen noch schreiben können; ferner Tante Avery und Onkel Lowell, seines Zeichens Professor für Wirtschaftswissenschaften und ihre drei Kinder. Später kommt noch die Großtante, Schriftstellerin Nollie, aus Frankreich zurück, als dort die Animositäten gegenüber Amerikanern zunehmen.
Nun also verliert der Dollar gegenüber der neuen Währung, in der zukünftig alle internationalen Verbindlichkeiten beglichen werden müssen, dramatisch an Wert. Es kommt zur Hyperflation und zum vollständigen Zusammenbruch des Wirtschafts- und Finanzsystems in den USA. Nicht zufällig spielt die Handlung im Jahr 2029, genau 100 Jahre nach Beginn der „Great Depression“. Die asiatischen Märkte, vor allem China und Indien frohlocken. Aber auch Mexiko macht bald seine Grenzen für US-Amerikaner dicht. Der amerikanische Präsident, ein Latino, sucht die Rettung in einer kompletten Abschottung der USA. Kein Bürger darf mehr als 100 Dollar ausführen, der Bancor wird im Inland verboten und sämtliche Goldvorkommen in der Bevölkerung vom Staat konfisziert – regelrechte Razzien werden durchgeführt. Importwaren werden daraufhin unerschwinglich, ebenso Mieten und Hypothekenzinsen, die Arbeitslosenzahlen wachsen ins gigantische, die Aktienkurse stürzen ab. Diese Entwicklungen führen schließlich zum vollständigen Zusammenbruch auch aller gesellschaftlichen Ordnung. Es herrscht das Chaos, Zustände „schlimmer als in Lagos“. Auch die Mandibles bekommen die Entwicklungen in voller Härte zu spüren.
Dann ein Sprung ins Jahr 2047. Die USA haben sich in der Krise irgendwie eingerichtet, aber zu welchem Preis? Eine regelrechte Diktatur und ein Überwachungsstaat haben sich etabliert, jeder Bürger unter 68 ist mit einem Chip versehen, der nicht nur lückenlose Bewegungsprofile aufzeichnet, sondern auch sämtliche Ausgaben und Einnahmen managt. Die Steuern betragen bis zu 90% jeden Einkommens. Dafür gibt es soziale Absicherung. Sogar die „Runzeln“ bzw. „Langleber“ werden versorgt, auch wenn sich die junge Bevölkerung zunehmend gegen diese „unnötigen“ Ausgaben wehrt. Für Willing und Nollie sind diese Lebensbedingungen unerträglich. Sie erwägen die illegale Flucht in den „Freistaat“ Nevada, eine isolierte Insel der „Wildnis“.
Man sieht, Lionel Shriver hat sich einiges einfallen lassen für ihre Zukunftsvision. Vieles davon ist sehr klug entwickelt, lässt innehalten und auch erschrecken, manches erkennt man wieder, die ein oder andere Befürchtung hat man insgeheim selbst schon mal gehegt. Fehlende Plausibilität ist gewiss nicht das Problem dieses Romans. Einiges wirkt ein wenig albern, wie das schon erwähnte „Steini“ oder die „Runzeln“(ältere Menschen) oder auch die süffisant erwähnte (und schon vergangene) Chelsea-Clinton-Präsidentschaft. Aber das Buch ist spannend und durch seinen zeitweilig ironisch bis zynischen Ton und seine spritzigen Dialoge sehr unterhaltsam. Selbst sein streckenweise arg dozierender Charakter und die ausgedehnten ökonomischen Gespräche der Familie sind nicht der Grund, warum das Buch bei mir trotz allem Können der Autorin einen weniger schönen Nachgeschmack hinterlässt.
Es ist vielmehr das politische Statement, das sie untergründig, aber nicht untergründig genug, in ihren Roman einfließen lässt. Die Ängste, die sie hier plausibel schürt, und die auch den Leser erreichen, sind tatsächlich genau die Ängste, die auch große Teile der amerikanischen Rechten umtreiben. Es ist die Angst vor der Inflation, vor Staatsschulden, vor zunehmenden Sozialabgaben und Steuern, vor der Übernahme der Weltmacht durch China und die sogenannten Schwellenländer. Es sind die Reichen (und der gehobene Mittelstand), die bei Lionel Shriver am meisten zu leiden haben. Diejenigen, die unten auf der sozialen Leiter stehen, bekommen am wenigsten davon ab. Es ist die Abneigung gegen jede Form von Wohlfahrtsstaat, die zum Ausdruck kommt und im Horrorbild eines Staates, der seinen Bürger mit einem Chip versieht, um ihn besser kontrollieren zu können, gipfelt. Nicht zufällig ist schließlich die Steuerbehörde der große Feind, der fast wie eine geheime Staatspolizei operiert.
Der unabhängige Staat Nevada hingegen bietet seinen Bürgern keinerlei Sicherheiten, keine Krankenversicherung, keine Pharmaindustrie, keine Rente, aber die Menschen müssen dafür auch keine Steuern zahlen und dürfen sogar endlich wieder Waffen besitzen. „Nevada ist kein Utopia“. Aber, so wie ich die Autorin verstehe, ziemlich nahe dran.
Noch zwei Zitate aus dem Buch, die mein Unbehagen ein wenig verdeutlichen sollen.
„Dieser Staat ist ein faszinierendes soziales Experiment, und vielleicht steht die Abstimmung noch aus. (…) Alle westlichen Demokratien sind (dagegen) einen ähnlichen Weg gegangen und haben gesittet, ruhig und in gewisser Weise auch sorglos angefangen. Aber am Ende stößt ihnen die eigene Tugendhaftigkeit auf. Ihre Vernarrtheit in Fairness und Gerechtigkeit. Natürlich würden wir in einer idealen, fairen Welt alle bös große Häuser und Berge zu essen haben. Mit unbeschränktem Zugang zu den neuesten Heilmethoden, freier Kinderbetreuung, brutalen Bildungschancen und aufgeschüttelten Kissen für die Langleber…(…) und alles, klar, ohne sich dafür querlegen zu müssen. (…) Die untere Hälfte kriegt keine Blumen, und die obere fühlt sich beraubt. (…) Die Regierung wird ein teurer, schwerfälliger, ineffizienter Mechanismus, um den Wohlstand von Leuten, die etwas tun, zu Leuten, die nichts tun, zu schaufeln und von den Jungen zu den Alten, wo´s doch andersrum sein sollte.“
Das ist vielleicht zynisch, aber leider nicht ironisch gemeint. Als Rettung erscheint den Mandibles das in Nevada herrschende „Jeder ist für sich selbst verantwortlich“, was mir sehr nach einem Politikverständnis à la Trump klingt. Auch ist die letzte und einzige Bastion, auf die man am Ende noch zählen kann, die Familie. Das Ende des Buches finde ich ziemlich unerträglich.
Wer von diesen ideologischen Unterströmungen absehen oder diese ironisch lesen kann, erhält mit „Eine amerikanische Familie“ von Lionel Shriver ein spannendes, plausibel entwickeltes Zukunftsszenario mit einem gewissen Gruseleffekt und hohem Unterhaltungswert. Und obwohl die Figuren recht flach gestaltet sind, ist auch der Familienroman gut gelungen.
Beitragsbild: Dollar by Images Money (CC BY 2.0) via flickr
Weitere Besprechungen findet ihr bei Constanze von Zeichen und Zeiten, Birgit von Sätze und Schätze und Letteratura
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Lionel Shriver – Eine amerikanische Familie
übersetzt von: Werner Löcher-Lawrence
Piper Verlag Januar 2018, Herdcover, 496 Seiten, € 24,00
Hallo Petra,
manche Idee mag wirklich gut entwickelt sein und auch schön zu Ende gedacht, aber mir haben schon die gaben ökonomischen Dialoge das Buch versauert, so dass ich es abbrechen musste. Da empfand ich Jürgen Bauers Roman „Ein guter Mensch“ das realistischere Szenario und sprachlich auch reifer als die Übersetzung von Shrivers Buch.
Liebe Grüße
Marc
Hallo Marc, auf Jürgen Bauer bin ich auch schon aufmerksam geworden… Wenn man nur mehr Lesezeit hätte. Umso bedauerlicher, sie dann an solche Bücher wie dieses zu „verlieren“. Da ist Abbrechen manchmal doch besser. Viele Grüße, Petra
Hallo,
habe von dem Buch vorher noch gar nichts gehört, aber es klingt super spannend. Ich weiß allerdings nicht ob sich bei diesen Zeitsprung und neuer Währung usw. bei mir nicht ein Knoten im Kopf bilden 😀
Ich behalte die Lektüre aber auf jeden Fall mal im Auge. Vielleicht ist das auch was für meinen Freund 😉
Liebe Grüße
Chrissi
Liebe Chrissi, manchmal wird das buch tatsächlich ein bisschen wirtschaftstheoretisch, aber da kann man leicht drüber lesen. ansonsten ist liest es sich wirklich gut und spannend, da dürften sich keine Knoten bilden 😉 Liebe Grüße, Petra
Liebe Petra,
Auch von diesem Buch habe ich schon einiges gehört und es steht auf meiner Wunschliste. Ich finde es toll, wie differenziert du dich mit dem Buch auseinandergesetzt hast. Von dieser unterschwelligen Systemkritik habe ich bisher noch nicht gehört. Ich habe das Buch zwar noch nicht gelesen und kann daher nicht gut Stellung dazu beziehen, aber nach dem Zitat in deiner Rezension, klingt die Kritik ja sehr berechtigt. Dadurch hast du mich jetzt tatsächlich sehr ins Wanken gebracht, ob ich das Buch überhaupt noch lesen möchte. Hm. Mal sehen. Eigentlich ist es ja immer am Besten, sich eine eigene Meinung zu bilden.
Liebe Grüße und danke für diese schöne unkritische Rezension. Oh, und die Bilder dazu haben mir auch echt gut gefallen. Man merkt, dass du dir viel Mühe gibst und dir Gedanken machst. Echt toll.
LG, Julia
Dankeschön, Julia. Shrivers Buch ist wirklich gekonnt geschrieben und auch spannend. Mich hat aber von Anfang an etwas gestört und nach und nach kristallisierte sich dann heraus, was es war. Ich habe einige Besprechungen von durchaus kritischen Leserinnen gelesen, die das überhaupt nicht so empfanden. Zwischendurch dachte ich schon, ich reagiere da über. Aber nein, für mich persönlich stimmte das nicht. Solltest du das Buch doch zur Hand nehmen, sag mir bitte, wie du das empfandest. LG, Petra
Ich habe dieses Buch (mit sehr viel Interesse) gelesen und fand es nicht schlimm oder ärgerlich, sondern menschlich, dass am Ende die Familie in den Mittelpunkt rückt. Wenn alle künstlichen Systemen untergehen, ist der Mensch ganz allein für sich verantwortlich – diesen Gedanken würde ich indes nicht in die neoliberale, populistische Ecke schieben, sondern eher aus der Logik heraus begreifen wollen. Das beweisen auch andere dystopische Romane, die den „Kampf “ des Individiuums ums Überleben in den Fokus rücken und Barbarei der Menschlichkeit gegenüberstellen. Viele Grüße
Liebe Constanze, ich habe deine Rezension zum buch auch mit großem Interesse gelesen. In die populistische Ecke möchte ich das Buch auch keinesfalls stellen, in die neoliberale andererseits schon mit seinen Tendenzen gegen Besteuerung, gegen staatliche soziale Sicherungen usw. Und was mir am Ende nicht gefallen hat, war weniger, dass die Familie zusammenhält, als diese Einsammeltour Willings, die dann auch noch den guten Goog mitnahm, das war mir etwas zu viel des Guten. Aber es ist doch spannend, wie unterschiedlich Bücher gelesen werden können, immer wieder. Viele Grüße zurück!
Ich habe jetzt schon zwei oder drei Rezensionen zu diesem Buch gelesen und du bist die erste, die diesen politischen Unterton kritisch thematisiert. Finde ich spannend.
Hallo Gunnar, ich war mir auch ganz unsicher, weil die so positiven Kritiken aus absolut vertrauenswürdigen Quellen kamen 🙂 Aber ich hatte die ganze Zeit über bei der Lektüre dieses ansonsten durchaus guten Buchs ein ungutes Gefühl. Und ich habe zunächst auch versucht, die Untertöne ironisch oder als Meinung der Protagonisten zu lesen. Ist mir nicht gelungen. Und als ich dann über Frau Shriver ein wenig gegoogelt habe: sie ist vehemente Brexit-Befürworterin, scharfe Kritikerin der europäischen Flüchtlingspolitik und von Steuererhöhungen, da konnte ich das nur noch als Statement der Autorin lesen. Folgen der Klimaveränderungen zum Beispiel spielen keine Rolle (mit Ausnahme der Kaffeepflanzen, die nicht mehr wachsen mögen). Besitz von Waffen wird positiv konnotiert. Und und und. Das mochte ich tatsächlich nicht, gerade weil es so unterschwellig daherkam. Vielleicht liege ich auch falsch, aber ich las es so.