Jesmyn Ward – Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt

Die afroamerikanische Autorin Jesmyn Ward gewann bereits 2011 vor Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt mit ihrem zweiten Roman „Salvage the bones“ (Deutsch: „Vor dem Sturm“) einen der bedeutendsten Buchpreise der USA, den National Book Award. Dabei lieferte der Jahrhundertsturm Katrina den dunkel dräuenden Hintergrund einer Familiengeschichte aus der untersten Gesellschaftsschicht der amerikanischen Südstaaten. Armut, Hoffnungslosigkeit, Vernachlässigung, Drogen- und Alkoholmissbrauch, sexuelle Gewalt und Teenagerschwangerschaft, aber auch Solidarität in der Familie und besonders auch die Beziehung unter Geschwistern waren die Kernpunkte dieses Textes. Dinge, die die Autorin, die selbst aus einem ähnlichen Milieu abstammt und in Mississippi aufwuchs, nur zu gut kennt. Ihr ermöglichte ein wohlhabender Arbeitgeber der Mutter, die in den gutgestellten Haushalten putzen ging, eine Schul- und Universitätsausbildung. Das Verhältnis zu ihren Schwestern war sehr eng.

Auch in ihrem dritten Roman, der das Kunststück fertigbrachte, den National Book Award 2017 ein weiteres Mal zu gewinnen, ist Jesmyn Ward diesem Milieu treu geblieben. Und wieder ist es ein Familienporträt, in dem besonders die Kinder eine Stimme bekommen. Hier ist es der heranwachsende Jojo, mit dessen 13. Geburtstag das Buch beginnt. Jesmyn Ward springt direkt mit aller Drastik in das Geschehen. Der Großvater River Stone, liebevoll Pop genannt, schlachtet zu diesem Ehrentag eine Ziege. Die mit all ihr innewohnenden Grausamkeit erzählte Szene zeigt, dass hier keine Platz ist für Sentimentalitäten. Der Leben ist hart in Bois Sauvage, dem Ort, der der Heimatgemeinde Wards, De Lisle, nachgebildet ist, und der auch bereits in „Vor dem Sturm“ Schauplatz der Handlung war. Ein magischer Ort am Golf von Mexiko, unweit von New Orleans, eine Hochburg des Rassismus, der Armut sowohl bei der afroamerikanischen als auch bei der weißen Bevölkerung. Der White Trash, so die unschöne Bezeichnung für die weiße Unterschicht, hier ist sie zuhause, hier pflegt er seine Verachtung der schwarzen Bevölkerung. Aus ihm stammt Jojos Vater Michael, dessen Eltern sowohl die Mutter Leonie als auch Jojo und seine kleine Schwester Michaela, genannt Kayla, wegen ihrer Hautfarbe strikt ablehnen. Michael selbst sitzt seit drei Jahren wegen Drogenvergehen im berüchtigten Gefängnis Parchman Farm, der ältesten Haftanstalt in Mississippi. Dort saß bereits Jojos Großvater Pop unschuldig unter brutalen Verhältnissen ein. In Erinnerungen und Erzählungen erfahren wir davon. Schwere Arbeit und Misshandlungen waren damals in den vierziger Jahren an der Tagesordnung. Einen wirklichen Grund für die Verhaftung eines Schwarzen war kaum nötig. Hunde bewachten die Gefangenen bei ihrer schweißtreibenden Arbeit, Rassismus war Alltag.

Welcome to mississippi
Mississippi Gulf Coast by edgrawes  (CC BY 2.0) via flickr

„Arme Weiße im gesamten Süden verehrten ihn deswegen, liebten ihn, weil er dem Auge des Gesetzes eins ausgewischt hatte. Es geblendet hatte. Weil er ein Gesetzloser im gesetzlosen Süden war, wo es schlimmer zuging als an der Frontier.“

heißt es über einen Aufseher. Auch wenn Sprüche wie der vom Gefängnisdirektor heute höchstens noch hinter vorgehaltener Hand gemacht werden

„Es ist wider die Natur, dass ein farbiger Mann Herr über die Hunde ist. Ein farbiger Mann weiß nicht, wie man führt, weil er das Herrschen nicht im Blut hat. (…) Das einziger, was ein Nigger kann, ist schuften.“

kommt einem die Szenerie gar nicht so unbekannt vor. Im Roman ist Rassismus auch in der Gegenwart an der Tagesordnung, sei es bei der schnellen Vorverurteilung von Afroamerikanern, sei es bei den Verkehrskontrollen durch (meist weiße) Polizisten. Jesmyn Ward schreit diesen Vorgängen ein entschiedenes „Black lives matter“ entgegen. Auch deswegen ist der Roman so hochaktuell.

Im Kern geht es aber um die Familie. Leonie ist bereits als Jugendliche Mutter geworden, sie ist drogenabhängig und völlig unfähig, Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen. Ihre Eltern kümmern sich zwar liebevoll und nach ihren Möglichkeiten um die beiden, aber es herrscht Armut und Großmutter Ama ist schwer an Krebs erkrankt und wartet bettlägerig und schwach mehr oder weniger auf den Tod.

Nun soll Vater Michael aus dem Gefängnis entlassen werden und Leonie will ihn mit den Kindern abholen. Die kleine Kayla kennt ihren Vater noch gar nicht. So machen sich die drei mit Leonies Freundin Misty auf den Weg, auch sie drogenabhängig, und die beiden Frauen nutzen die Reise, um noch ein wenig Stoff zu transportieren. Es ist völlig erschreckend, wie rücksichtslos und egoistisch sich Leonie ihren Kindern gegenüber verhält, wahrscheinlich sogar, ohne es zu bemerken. Der Roadtrip entwickelt sich zu einem Horrortrip, auf dem es Kayla immer schlechter geht, sie muss sich ständig übergeben, und auf dem Rückweg werden sie bei einer Verkehrskontrolle beinahe mit den Drogen erwischt.

Mississippi  by  jessdamen (CC BY-SA 2.0) via Flickr

Mit im Auto sitzen noch zwei heimliche Passagiere, die nur sehen kann, wer, wie einst die Großmutter Ama, eine besondere Gabe dafür hat. Es sind die Geister zweier früh Verstorbener. Zum einen ist da der kleine Richie. Ihm gehört neben Jojo und Leonie die dritte Erzählstimme, wenn auch deutlich kürzer als die der beiden anderen. Er war einst als 12 Jähriger mit River in Parchman interniert und wurde bei einem Fluchtversuch getötet. Nun möchte er Gewissheit über seinen Tod erlangen. Der andere ist Given, der Bruder von Leonie, der als junger Mann von einem Weißen erschossen wurde und der nun Leonie erscheint. Auch diese Art von Gewalt kennt Jesmyn Ward aus erster Hand. Ihr Bruder wurde mit 20 getötet.

Diese mitreisenden Geister stehen zum einen in der Erzähltradition der Südstaaten, wie sie zum Beispiel auch bei einer Toni Morrison zu finden ist und die auf afrikanische Ursprünge zurückgeht, die einen Raum schaffen, sowohl für Tote wie für Lebende. Zum anderen versinnbildlichen sie die Unermesslichkeit der Zeit.

„Als ich klein war, habe ich das mit der Zeit auch nicht verstanden. (…) Und wie hätte ich verstehen sollen, das Parchman Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem war? Dass die Geschichte und die Geisteshaltung, die diesen Ort aus der Wildnis herausgeschält hatten, mir zeigen würden, dass die Zeit ein unermessliches Meer ist und dass alles gleichzeitig geschieht?“

Die Vergangenheit prägt die Gegenwart, ohne die eine ist die andere nicht denkbar. Dass wir aus der einen lernen, dass wir sie nicht verdrängen, um die andere positiver zu gestalten, ist der Wunsch. Und dass wir Verantwortung füreinander übernehmen. Dies tun im Roman in vorbildlicher Weise die Kinder. Wie aufopferungsvoll sich Jojo um seine kleine vernachlässigte Schwester kümmert, ist herzergreifend. Hier bei den Kleinsten liegt die Hoffnung des Buchs, es besser zu machen als die Erwachsenen. Denn auch wenn Jojo gleich zu Beginn des Buchs feststellt

„Hier ist von Glück keine Spur.“

ist das Buch doch nicht gänzlich hoffnungslos, was vor allem am verantwortungsvollen Umgang miteinander liegt, zwischen den Geschwistern, aber auch den Großeltern.

Sehr einfühlsam, aber auch sehr präzise erzählt Jesmyn Ward in Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt davon und davon wie die Figuren ihren Platz im Leben suchen und ihre Zugehörigkeit. Selbst solche wie Leonie, über deren Verhalten man mehr als einmal den Kopf schütteln muss, auf die man zunehmend wütend wird, selbst sie kann man ein Stück weit verstehen. Ward ist in ihrer Schilderung zwar gnadenlos, aber immer mitfühlend. Sprachmächtig und sinnlich verschafft sie mit ihren Büchern immer wieder denjenigen Menschen eine Stimme, die selbst keine haben. Der National Book Award ist ein Zeichen dafür, dass sie gehört wird.

Beitragsbild by Michael McCarthy  (CC BY-ND 2.0) via Flickr

Weitere Besprechungen bei Constanzes Zeichen und Zeiten und beim Bookster HRO

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Jesmyn Ward - Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt
Jesmyn Ward – Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt
Übersetzt von Ulrike Becker
Kunstmann Februar 2018, gebunden, 304 Seiten, € 22,00

 

6 Gedanken zu „Jesmyn Ward – Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt

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  3. Ein Buch welches einen mitnimmt und fordert. Empfand es als spannend und lehrreich. Habe mir gleich noch „Vor dem Sturm“ aus der Bibliothek ausgeliehen, weil ich ihr Schreiben wahnsinnig gut finde.

    Sehr schöne Besprechung im Übrigen, mit Herzblut für den Text geschrieben.

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