Jacqueline Woodson – Ein anderes Brooklyn
„Sylvia, Angela, Gigi, August. Wir waren vier Mädchen, unglaublich schön und schrecklich allein.
Das ist Erinnerung.“
Die vielfach für ihre Kinder- und Jugendromane preisgekrönte US-amerikanische Autorin Jacqueline Woodson bleibt auch in ihrem gerade auf Deutsch erschienenen Buch für Erwachsene ihrem Personal treu.
Die Anthropologin August kehrt zur Beerdigung ihres Vaters zurück an den Ort ihrer Kindheit, Bushwick, Brooklyn, New York.
Als kleines Mädchen nahm der Vater sie und ihren jüngeren Bruder mit zurück in seine Herkunftsstadt, nachdem die Mutter sie verlassen hatte. Es war ein großer Schritt vom ländlichen Tennessee, vom alten Farmhaus mit Garten und angrenzendem Fluss in die überfüllten, damals, 1973, hauptsächlich von Ibero- und Afroamerikanern der unteren Einkommensschichten bewohnten Wohnblocks Bushwicks. Eine schäbige, von Jugendbanden und Kriminalität bestimmte Gegend. Heute längst auch einbezogen in die Gentrifizierung der Stadt, herrschten damals noch Armut, Drogenkonsum und Wegzug der weißen Bevölkerung vor. Lange Zeit verbot der Vater seinen Kindern, auf die Straße zu gehen.
Doch vom Fenster aus beobachten August und ihr Bruder sehnsüchtig das Geschehen. Besonders drei Mädchen haben es August angetan. So frei, so glücklich, so tief miteinander verbunden erscheinen sie ihr.
Eine davon, Sylvia, trifft sie bei ihrer Rückkehr zur Beerdigung in der Subway. Eine für sie eher schmerzliche Begegnung, die einen Erinnerungsprozess in Gang setzt.
„Wenn wir gewusst hätten, dass unsere Geschichte ein Blues mit einem Refrain ist, der immer wiederkehrt, hätten wir dann aufgehorcht und gesagt: Das ist Erinnerung, immer wieder, bis das Leben einen Sinn ergab? Wo wären wir heute, wenn wir gewusst hätten, dass unser Wirren einer Melodie folgt?“
„This is memory“ – Das ist Erinnerung – wie ein Refrain, eine Beschwörung zieht sich dieser Satz durch die Aufzeichnungen der Ich-Erzählerin August. Auf gut 150 locker, fast wie ein Prosagedicht gesetzten Seiten erzählt sie von ihrem Aufwachsen, der Freundschaft zu den einst von ferne bewunderten Mädchen, ihrer Familie und ihrem großen Schmerz. Es sind poetische Vignetten, deren Rhythmus und Klang der Autorin ungemein wichtig sind.
„I listen to it. Everything I write, Iread aut loud. It hast o sound a certain way. It hast o look a certain way on the page. I pay a lot of attention to whitespace. I pay a lot pf attention tot he rhythm of words together. I felt it.“
Diese Sorgfalt bei der Komposition und Sprache merkt man dem Buch auf wunderbare Weise an. Impressionistisch, kraftvoll, intensiv und poetisch reiht Woodson Erlebnisse und Gedanken zu einer bewegenden Collage einer Kindheit, des Aufwachsens eines farbigen Mädchens in einer nicht einfachen Zeit und Umgebung. Vieles wird dabei nicht ausgebreitet, sondern lediglich angedeutet. Das Unausgesprochene erhöht die Spannung. So beginnt das Buch mit dem etwas rätselhaften Satz
„Meine Mutter war lange nicht tot.“
Erst im Verlauf des Erzählten wird die Bedeutung dieser Einführung klar, wird der Ursprung von Augusts Schmerz deutlich. Auch was mit diesem „anderen Brooklyn“ gemeint ist, bleibt der Phantasie des Lesers überlassen. Ist es das noch nicht gentrifizierte Brooklyn der Siebziger Jahre? Ist es jenes andere Brooklyn, das die Kinder zunächst nur durch das Fenster ihrer Wohnung betrachten dürfen? Ist es jenes Brooklyn, in dem August und ihr Bruder groß wurden, das für sie so ganz anders war, als das Bild, das man gemeinhin von diesem New Yorker Stadtteil hat?
Auch die sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe werden lediglich angetupft. Von den „Kindern in Biafra“ ist mehrmals die Rede, die immer dann für die Erziehung herhalten mussten, wenn Undankbarkeit oder Widerwillen beklagt wurden. Der Vietnamkrieg wird erwähnt, wo der Vater zwei Finger verlor und der Bruder der Mutter, Onkel Clyde, sein Leben – etwas, dass diese völlig aus der Bahn warf und sie in die Depression trieb. Und da war der „Great Blackout“ 1977, wo plündernde Banden die von der Stromversorgung abgeschnittene Stadt unsicher machten.
Es war kein heiteres, unbeschwertes Aufwachsen dort im Bushwick der Siebziger Jahre. Und so erzählt das Buch auch von Trauer und Verlust, von Armut und Drogen, von Teenagerschwangerschaften und von der Religion, explizit der „Nation of Islam“, als Flucht, von abwesenden Müttern und übergriffigen Männer. Letztere sind im Leben der heranwachsenden Mädchen omnipräsent.
„Mit acht, neun, zehn, elf, zwölf war uns klar, dass wir beobachtet wurden.“
Die Hoffnungen und Träume der Mädchen, der schönen Sylvia, die mit ihren Eltern aus Martinique nach Brooklyn kam und deren Vater Hegel und Proust liest, der tanzbegeisterten Angela und der von der Schauspielerei träumenden Gigi, sie reiben und stoßen sich an der rauen Realität. So manche zerplatzen und auch die Mädchen kommen nicht alle unbeschadet davon. Das ist bewegend und auch traurig zu lesen. Aber das Buch erzählt eben auch von Freundschaft, von Zugehörigkeit und (Über)Lebenswillen. Und das auf so poetische, sprachlich schöne Weise, dass es niemals trostlos wird, sondern im Gegenteil, fast hoffnungsvoll.
Augusts Schwerpunkt als Anthropologin sind Bestattungsrituale. Immer wieder beschwört sie solche Rituale herauf. Sie sind ihr ein Trost, aber auch Anklage und steter Stachel.
„Wenn auf Fidschi jemand starb, wurde ein ausgewählter Angehöriger erwürgt, damit der Verstorbene im Jenseits nicht allein war. (…) Wenn die Stämme auf Fidschi ihre Lebenden wirklich zu den Toten schicken, dann hätte ich mit ihr fliegen sollen. Oder Angela. doch wir blieben auf der Erde. Wir glaubten, wir hätten keine Flügel.“
„Ein andere Brooklyn“ stand auf der Shortlist zum National Book Award. Es ist schmerzlich schön und wird für mich eines meiner Lieblingsbücher bleiben.
„Ich hob den Kopf, betrachtete die sich färbenden Blätter und dachte, dass wir alle irgendwann heimkehren. Irgendwann wurde das ganze Leben, alles und jeder, Erinnerung.“
Beitrag: Myrtle Avenue Station, M train, Bushwick by Susan Sermoneta (CC BY-NC-SA 2.0) on Flickr
Birgit von Sätze und Schätze hat das Buch auch sehr positiv besprochen
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Liebe Petra,
Wow, das klingt wirklich nach einem großartigen Buch. Und du hast dich mal wieder sehr ausführlich mit der Geschichte und den Personen auseinandergesetzt. Hätte das Buch nicht eh schon auf meiner Wunschliste gestanden, dann hätte ich es spätestens jetzt auf die Liste gesetzt. Danke mal wieder für diese schöne Rezension.
Liebe Grüße, Julia
Danke, liebe Julia. Ich hoffe, du hast genauso viel Freude an dem Buch wie ich. Liebe Grüße, Petra
Ich habe den Roman auf Englisch gelesen, weil er mir schon auf englischen Seiten aufgefallen ist.
Ich freue mich, dass er jetzt auch auf Deutsch übersetzt wurde.
Ich mag diese Art von Schreibstil wirklich gerne, die Sprache ist so dicht und kraftvoll, dass es gar nicht viele Seiten braucht und trotzdem bewegend und berührend ist.
Liebe Grüße, Anja
Liebe Anja, so weit ich das beurteilen kann, ist auch die Übersetzung sehr gut gelungen. Das ist bei solch lyrischen Werken ja ganz entscheidend. Wirklich ein tolles Buch einer Autorin, die ich bislang nicht kannte. Viele Grüße und schöne Ostertage, Petra
Das freut mich, dass Du den Roman auch so sehr lobst – eine schöne Besprechung! Ja, sorgfältig durchkomponiert und sehr poetisch, so empfand ich ihn auch, wirklich ein sehr schönes Stück Literatur.
Und danke für den Link!
Viele Grüße, Birgit
Das ist ganz gewiss ein Buch, das ich sehr gerne lesen möchte, denn 1969/70 war ich selbst zum ersten Mal in den USA, und New York (aber nicht nur New York) erschreckte mich.
Das andere …
Ich glaube, von jedem Ort gibt es „einen anderen“. Vielleicht kennt man überhaupt keinen Ort wirklich, weil man ihn mit den Augen aller Menschen, die ich jemals gesehen haben, sehen müsste, um ihn zu kennen. Vielleicht würde diese Erkenntnis uns von der Vorstellung heilen, dass uns ein Ort gehört, und dass wir das Recht haben, andere von dort zu vertreiben.
Jedenfalls habe ich Jacqueline Woodson und ihren Roman vorgemerkt.
PS: Die Häuserzeile auf dem Bild oben erinnert mich an Edward Hoppers „Early Sunday Morning“.
Ich hoffe (und glaube), dass dir der Roman gefällt. Ich mochte ihn wirklich sehr. Ein richtige kleine Perle. Viele Grüße, Petra