Ein Hausroman – aber keiner von der üblichen Sorte. Denn um die Beziehungen der Bewohner untereinander geht es hier nur sehr am Rande. Tatsächlich sind die Figuren lediglich durch die Tatsache verbunden, dass sie alle im selben Haus am Rande von Tel Aviv beheimatet sind. Auch geht es nicht in erster Linie darum, unterschiedliche Menschen mit dem Rahmen „Wohnhaus“ vorzustellen und ihre Geschichten zu erzählen. Eshkol Nevo ist studierter Psychologe (und Enkel des israelischen Ministerpräsidenten von 1963 bis 1969, Levi Eshkol) und hat mit seinem Roman „Über uns“ (auch) ein anderes Ansinnen. „Shalosh komot“ lautet der Originaltitel „Drei Etagen“. Und richtig, Nevo möchte auf spielerische Weise das Freudianische Strukturmodell der Psyche mit seinen drei Instanzen Es, Ich und Über-Ich in einen erzählenden Text fassen. Drei Instanzen, die jeweils auf einem Stockwerk eines Wohnhauses angesiedelt sind. Drei Erzählungen, die nur lose miteinander zu tun haben.
Eshkol Nevo macht den Leser zum Zeugen von fast typischen psychoanalytischen Monologen. Drei Menschen, die in einer Zwickmühle stecken, über die sie reden müssen, die vielleicht auch Rat suchen, aber vor allem eine Art Beichte ablegen. Die Adressaten dieser Beichten sind merkwürdig diffus.
In der ersten scheint es ein Freund oder Kollege zu sein, der den Ausführungen von Arnon folgt. Dieses Gegenüber tritt kaum in Erscheinung, greift in den Monolog nahezu überhaupt nicht ein. Arnon erzählt von etwas, dass ihn tief aufregt. Er lebt mit seiner Frau Ayelet und zwei kleinen Töchtern im Erdgeschoss. Die ältere von beiden geben die Eltern immer wieder mal rüber zu dem älteren Ehepaar Hermann und Ruth, um mal ein paar Stunden für sich zu haben oder um Dinge zu erledigen. Die kleine Ofri fühlt sich wohl dort, und es ist ja so bequem und billig. Doch Hermann zeigt zunehmend Zeichen von Demenz und eines Tages verirrt er sich beim Spazierengehen mit der Kleinen und wird in ziemlich aufgelöstem Zustand aufgefunden. Für Arnon ist klar, da muss was passiert sein. Der Leser erfährt über diese Geschichte nur durch die Augen von Arnon, und doch wird ihm sehr bald klar, dass hier ein völlig überreagierender, latent aggressiver, wenig eigene Triebkontrolle besitzender Mann spricht. Der Angriff auf Hermann und die nachfolgenden Enthüllungen über ein Verhältnis mit dessen minderjähriger Enkelin erstaunen da wenig. Hier waltet wohl eindeutig das „Es“.
Bei der zweiten „Beichte“ ist die Adressatin eine im fernen Amerika lebende Jugendfreundin, der Chani aus dem ersten Stock einen Brief schreibt. Chani ist verwirrt. Emotional völlig vernachlässigt, da Ehemann Noam ständig geschäftlich unterwegs und auch sonst nicht sehr am familiären Leben interessiert ist, lebt sie ziemlich isoliert mit der kleinen Tochter. „Die Witwe“ wird sie im Haus heimlich genannt. Eines Tages steht der wegen Betrügereien von der Polizei und wohl auch von weitaus zwielichtigeren Gläubigern verfolgte Schwager vor der Tür. Noam ist mal wieder auf Geschäftsreise, und Chani lässt ihren Schwager nicht nur bei sich im Haus wohnen, sondern entdeckt auch Gefühle für ihn. Oder entspringt das alles nur ihrer überreizten, nicht ausgelasteten Fantasie?
Im dritten Stock herrscht das Über-Ich in Person der pensionierten Richterin Dvorah. Seit einiger Zeit verwitwet, plant sie einen Umzug und stößt beim Packen auf einen alten Anrufbeantworter. Dieser ist noch mit der Stimme ihres äußerst rechtschaffenen Mannes Michael, auch er Richter, besprochen. In einem Monolog an ihn bespricht sie nun etliche Bänder. Im Mittelpunkt steht der durch eine Begegnung unlängst wieder hochgekommene Bruch mit ihrem Sohn Adar. Dieser war wohl schon immer ein schwieriges Kind – aber auch hier bekommen wir natürlich nur eine Seite der Medaille zu sehen bzw. zu hören. Den strengen ethischen Ansprüchen und Verhaltensnormen besonders des Vaters konnte er nie entsprechen, wurde auch straffällig und kam schließlich in eine nahezu unentschuldbare Situation, aus der ihn die Eltern nicht „raushauen“ konnten oder wollten. Daraufhin wandte sich Adar brüsk und vollkommen von seinen Eltern ab. Eine Situation, die für Chani sehr schwer erträglich war. Auch, weil die Verhaltensnormen der Frauen in ihrer Umgebung sie streng verurteilten, nach dem Motto „Eine Mutter muss alles verzeihen und ihrem Kind immer beistehen.“
Drei Menschen, drei Konflikte, drei Beichten. Auch wenn sich für mich der Bezug zumoben erwähnten Strukturmodell der Psyche nicht allzu klar herstellen ließ und die Rahmenkonstruktion mit den „Adressaten“ der Monologe manchmal etwas knirschte, hat Eshkol Nevo doch drei interessante Geschichten erzählt, die jede ein wenig nachdenklich zurücklässt.
Wer Eshkol Nevo noch nicht kennt, dem empfehle ich aber vor allem seinen wirklich wunderbaren Roman „Wir haben noch das ganze Leben“, eine warme, lebendige Freundschaftsgeschichte.
Beitragsbild: Peephole by Iwan Gabovitch (CC BY 2.0) via Flickr
Eine weitere Besprechung des Romans „Über uns“ findet ihr bei Letteratura
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Eshkol Nevo – Über uns
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
dtv Literatur Januar 2018, gebunden, 320 Seiten, 22,00 €
Ich habe noch zwei andere Romane des Autors gelesen, die mir beide deutlich besser gefallen haben. Diesen habe ich schon fast wieder vergessen, was meist kein gutes Zeichen ist…