Vor etwas mehr als zehn Jahren erschien der Roman „Die Stimmen des Flusses“ auf Deutsch. Ein großangelegtes katalanisches Epos, das die spanische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ebenso gekonnt ins Visier nahm wie die menschlichen Verstrickungen in einem Dorf tief in den katalanischen Pyrenäen. Der Autor Jaume Cabré, Jahrgang 1947 und vielfach ausgezeichnet, schuf damit ein Meisterwerk, nun erschien ein „neues“ Werk auf Deutsch, das sich bei genauerem Hinsehen aber als ein bereits 1996 im Original erschienenes erweist, „Eine bessere Zeit“.
Und wenn auch so manches, das in den „Stimmen“ so überwältigte, auch hier angelegt ist – die virtuose Konstruktion, die Zeit- und Perspektivensprünge, die Personen- und Detailfülle, die vielfältigen Reminiszenzen -, kommt dieser Roman doch leider nicht an den Nachfolger heran. Dieser vereinte Familienepos, historischen Roman und Polit-Thriller auf kunstvolle und überzeugende Weise, war gleichzeitig erschütternde Erinnerung an die blutigen Zeiten des Spanischen Bürgerkriegs.
Gerade diese Verbindung unterschiedlicher Absichten gelingt Jaume Cabré in „Eine bessere Zeit“ nicht. Hier bleibt der Autor zu unentschieden zwischen Familiengeschichte, politisch-historischem Erzählen und dem Requiem auf eine verlorene Liebe. Dabei ist der Aufbau des Romans an ein solches musikalisches Requiem angelehnt, und zwar an das Violinkonzert von Alban Berg, „Dem Andenken eines Engels“. Berg komponierte dieses nach dem ihn tief erschütternden Tod der 18jährigen Manon Gropius 1935. (Und es wurde übrigens im Barcelona, im Palau de la Música Catalana uraufgeführt.) Cabré bezieht sich nicht nur vielfach auf dieses Musikwerk, sondern er gruppiert seinen Text auch nach dessen Konzertsatz (Zwei Sätze – Andante, Allegretto, Allegro, Andante). Auch der abschließende Bach-Choral „Es ist genug“, findet mehrfach Erwähnung. Dieser Aufbau ist so reizvoll wie passend. Gilt das Andenken doch der Liebe des Protagonisten zu einer begabten und erfolgreichen Violinistin. Leider kristallisiert sich dieser Schwerpunkt erst im letzten Viertel des Romans heraus und ist dann auch nicht ganz frei von Kitsch. Dennoch würde ich diesen Abschnitt des Romans als den am interessantesten bezeichnen.
Zuvor folgt der Leser einer weit aufgespannten, sieben Generationen umspannenden, teils etwas verwirrenden, vor allem aber nur mäßig interessanten Familiengeschichte.
Die Gensanas haben die Marotte, ihre ältesten Söhne immer abwechselnd Antoni und Maur zu nennen. So zieht sich die Reihe der so Benannten vom Stammvater des 18. Jahrhundert bis zu jenem Nachkommen, der in Folge eines „Namenskriegs“ 1909 Pere genannte wurde. Grund und Ursache dieser Namensgebung ist eines der Familiengeheimnisse, die allerdings den Leser nicht sonderlich rätseln lassen. Wie andere Begebenheiten und Wirrnisse der Gesanas sind sie eher relativ wenig spannend, vorhersehbar und kommen über Seifenopernniveau kaum heraus.
Am meisten enttäuscht hat mich allerdings die politisch-historische Ebene des Romans. Kündigt der Verlag noch an:
„Mit nicht einmal zwanzig Jahren bricht Miquel mit seiner Familie und zieht für sein Studium nach Barcelona, wo er ein Leben führen will, das nicht dem Geld, sondern seinen politischen Überzeugungen folgt. Bald zieht es ihn und seinen Freund Bolós in den antifranquistischen Untergrund. Als Franco stirbt und Spanien sich verwandelt, muss Miquel nach und nach zurückfinden. In episodenhaften Rückblicken erzählt Cabré vom Aufbegehren gegen die eigene Familie, von der Kraft der Tradition und vom Glauben an das Schöne angesichts der verlorenen Zeit.“,
kann ich davon im Roman kaum etwas wiederfinden. Miquel, der jüngste der Gesanas und Sohn jenes Pere, geht tatsächlich mit seinem Freund Bolós in den antifranquistischen Untergrund und begeht ein fürchterliches Verbrechen, aber nirgendwo werden seine Ideale, seine Beweggründe sichtbar. Der dritte im Freundschaftsbunde, Rovira, wählt das Priesteramt, auch diese Wahl wird nicht plausibel (noch weniger sein schließlicher Austritt und das exzessive Leben danach). Die politischen Umstände werden lediglich gestreift, der gesamte katalanische Widerstand zu einem mehr oder weniger undurchdachten Jungenstreich, mehr oder weniger einer Männerschwärmerei geschuldet. Wenn ich das mit der differenzierten Betrachtung des ETA-Terrors in Fernando Aramburus „Patria“ vergleiche, liegen dazwischen Welten.
Überhaupt sind die Männerfiguren von Jaume Cabré in „Eine bessere Zeit“ durchweg ärgerlich. Von unreifen Schwärmereien und ihren Sexualtrieben gesteuert, selbstverliebt und/oder in tragische Lieben verstrickt, unentschlossen und sich selbst bedauernd – so ziehen sie durch die Jahrhunderte. Der aktuelle Protagonist und Ich-Erzähler Miquel – Untergrundkämpfer und unglücklich Liebender – ist da keine Ausnahme. Von ihm erfahren wir die ganze Geschichte.
Und hier folgt noch einmal ein wenig Anerkennung für diesen mich insgesamt enttäuschenden Roman. Denn die Konstruktion ist schon beachtenswert. Die gesamten 560 Seiten inklusive Coda spielen während eines zweistündigen Abendessens, das Miquel mit seiner Kollegin Julia nach dem Tod Bolós einnimmt. In diese Rahmenhandlung, in der auch immer wieder eine Portion Humor auftaucht, sind zahlreiche Rückblenden, Erinnerungen, Gespräche mit dem Onkel Maurici und dessen Aufzeichnungen verwoben, die die gesamte Geschichte der Gesanas über die Jahrhunderte und Miquels Geschichte von seiner Geburt 1947 bis ins Jahr 1995 aufblättert. Das ist nicht ganz unkompliziert, gelingt aber in weiten Teilen sehr gut. Dass der Erzähler permanent, gerne auch mitten in einem Satz zwischen Ich-Er/Miquel hin und her springt, auch das liest sich irgendwann nach kurzem Einlesen ganz flüssig – auch wenn sich mir der Sinn dieses Stilmittels bis zuletzt nicht erschlossen hat.
Auch hier drängt sich mir der Verdacht auf, dass der Autor zu unentschieden war, zu viele Dinge, thematisch und stilistisch unterbringen wollte, hier ein bisschen spanischer Bürgerkrieg, dort ein wenig dunkle Familiengeheimnisse, da ein wenig männliche Selbstfindung und natürlich – obligatorisch – leidenschaftliche, wenn auch unglückliche Liebe. Ein weiterer Aspekt wurde dabei noch gar nicht erwähnt, der sich auf den Schaffensprozess eines Künstlers bezieht (in der Familie Gensana gibt es diverse Mitglieder mit literarischen Ambitionen; Miquel selbst führt Interviews mit Berühmtheiten). Dem Autor scheint dieser aber wichtig gewesen zu sein, bezieht sich doch der Originaltitel darauf, „L’ombra de l’eunuc“. Miquel fühlt sich selbst als ein solcher Eunuch, der keine kreative Kraft entwickeln kann, lediglich andere Kreative betrachtet. Im Deutschen geht diese Intention wegen des anders gewählten Titels, aber auch wegen der schwachen Verankerung im Erzählten ziemlich unter.
Es gibt auch sehr schöne Passagen im Buch, man merkt, was der Autor kann, sowohl in Bezug auf Sprache als auch Konstruktion, aber zu einem stimmigen Ganzen rundet sich das für mich nicht und lässt eine gewisse Unzufriedenheit zurück.
All die Versprechungen hält Jaume Cabré allerdings dann in seinem 2007 auf Deutsch erschienenen Roman „Die Stimmen des Flusses“ ein. Diesen kann ich aus vollstem Herzen empfehlen.
Beitragsbild: Music CC0 via Pixabay
Eine weitere Besprechung findet ihr bei Hauke auf dem Leseschatz
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Jaume Cabré – Eine bessere Zeit
Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann & Kirsten Brandt
Insel Verlag März 2018, Gebunden, 555 Seiten, € 24,00
Danke für die schöne Rezension, ich bin gewarnt. Allerdings kann ich mich erinnern, dass mich persönlich schon “Die Stimmen des Flusses“ nicht besonders ansprach. Ich glaube, dieser Autor ist eher nichts für mich.
Wenn die die „Stimmen“ nicht gefallen haben, dann bist du hier sicher nicht gut aufgehoben. Der Ansatz ist ähnlich, aber es ist lang nicht so ausgereift und stimmig. Viele Grüße!
Liebe Petra, ich werde hier zunächst „Die Stimmen des Flusses“ lesen. Mein Interesse ist geweckt und der Autor war mir bislan gänzlich unbekannt. liebe Grüsse Biggi
Ich bin gespannt, wie er dir gefällt! LG Petra