Esther Kinsky – Hain

Esther Kinsky beginnt ihren Roman Hain mit einer Tradition aus rumänischen Kirchen. Dort wird an verschiedenen Stellen für die Lebenden und die Verstorbenen gebetet. Viǐ und morțǐ. Stirbt ein Mensch, für den eine Kerze entzündet wurde, wird diese nach seinem Tod auf die andere Seite getragen.

Ein Bild für die Seelenverfassung der Ich-Erzählerin und für den Charakter des Erzählten. Es ist eine Zwischen-, eine Übergangszeit nach dem Tod des Lebenspartners, M., ein Hinübergehen von der Zeit der lebendigen Zweisamkeit zum Leben ohne ihn. „Hain“ ist ein Buch der Trauer.

Olevano, Rom
Perspective of Olevano Romano By Pietro Sassi (Ottocento Art Gallery, Rome) [Public domain], via Wikimedia Commons
Zwei Monate nach der Beerdigung M.s fährt die Erzählerin nach Olevano Romano, einer Gemeinde 50 Kilometer östlich von Rom. Die Reise dorthin war gemeinsam geplant und auf gewisse Weise reist der Verstorbene mit. Es ist eine Italienreise der ganz anderen Art. Statt in „das Land, wo die Zitronen blühen“, in ein Land des mediterranen Lichts und der Sonne und Wärme, Sehnsuchtsort so vieler Nord- und Mitteleuropäer, geht es in ein winterliches, graues, ja trostloses Land. Drei Monate von Januar bis März lebt die Ich-Erzählerin in einem Haus „auf der Anhöhe“, zwischen dem alten Ort und dem Friedhof.

„Ich lag wach und sann auf Möglichkeiten, mein Leben hier drei Monate lang in eine Ordnung zu pressen, die mich das unerwartete Fremde überleben ließ.“

Hierher nach Olevano Romano zog es im 19. Jahrhundert unzählige Maler aus dem Norden auf der Suche nach dem Süden. Hier liegt in der Nähe der Eichenwald Serpentara, der für die Künstler zu einem fast schon heiligen „Hain“ wurde, dessen Abholzung sie durch Ankauf erfolgreich verhinderten. Heute noch stehen hier zwei Stipendiatenstätten der Berliner Akademie der Künste, die Villa Serpentara und die Villa Baldi, in der auch die Autorin 2015 eine Weile lebte.

An den heiligen Hain, in den zur Römerzeit Verfolgte fliehen konnten und sie waren dort unverletzlich, an den gehegten Wald, aber auch an den Totenhain erinnert der Titel des Buchs. Genauso ist aber auch das ganz profane Wäldchen gemeint, die Landschaft, durch die die Erzählerin ausgiebig wandert und die sie minutiös wahrnimmt und schildert.

Saline di comacchio (Public Domain CC0) via Wikimedia Commons

Nun ist „Hain“  von Esther Kinsky aber kein „Landschafts-„, sondern ein „Geländeroman“, denn es fehlt jegliche Romantisierung oder Poetisierung der Natur. Es sind die Brachen, das Marschland, oft auch zersiedelte, durch Industrie oder Einkaufsparks verschandelte Landschaften, durch die sie streift, oft einfach offenes Land. Immer wieder zieht es sie auch auf den Friedhof, an die Kolumbarien, die gerade für Italien so typisch sind. Dagegen nimmt sie mit den Menschen hier kaum Kontakt auf. Menschen spielen in all der Landschaft nahezu keine Rolle. Und wahrscheinlich auch nicht in der Welt der Trauernden. Auch über sie selbst, über ihre Gefühle erfahren wir wenig. Die Erzählerin begibt sich auf Spurensuche, sucht einen Weg durch ihre Trauer, sucht ihn in der Landschaft, aber auch in der Kunst.

So symbol- und referenzreich wie bereits der Titel, ist das gesamte Buch. Sowohl in der Natur, in der die Sempervirens, die immergrünen Zypressen und Pinien die Landschaft beherrschen, als auch immer wieder in der Literatur und Kunst findet es Anknüpfungspunkte. So bei Georgio Bassani, dessen „Reiher“ als, wie der Verlag schreibt, „großartiger Roman über die Unfähigkeit, mit einer veränderten Welt zurechtzukommen“, auch wenn die Umstände ganz andere sind, sehr gut zum Gemütszustand der Erzählerin passt. Überhaupt Bassani, auf dessen Spuren sie sich auf einer Reise nach Ferrara begibt, auf der Suche nach den „Gärten der Finzi-Contini“. Oder Pier Paolo Pasolini, wenn sie durch die Vororte Roms irrt. Oder die vielen etruskischen Grabstätten, die sie einst bei Familienurlauben in Italien mit dem Vater aufgesucht hat. Oder der Renaissancemaler Frau Angelico, dessen strahlendes Lapislazuliblau den Vater so sehr faszinierte.

via Wikimedia Commons Web Gallery of Art(Public domain)

Mit einem Trauerbild von Frau Angelico, das die Totenmesse für Franziskus von Assisi darstellt, endet das Buch. Es ist eine dreiteilige Predella, also der Sockel eines Altaraufsatzes. Der Tod in der Mitte, links das Leben des Heiligen, rechts seine Hinterbliebenen. Nach dieser Dreiteiligkeit ist auch das Buch aufgebaut. Im ersten Teil, der Reise nach Olevano Romano, ist der Lebenspartner noch ganz nah. Die Reise war mit ihm geplant, ein Koffer mit seinen Kleidungsstücken wird aus dem Auto gestohlen, ein einst mit ihm zusammen gekauftes Kamerakabel geht verloren. Verluste. Im zweiten Teil erinnert sich die Erzählerin an an ihren Vater, an Familienurlaube. Auch hier immer wieder Italien, gerne auch abseits der Saison, immer auf der Suche nach etruskischen Spuren, beispielsweise zur etruskischen Nekropole nahe Cerveteri. Trauer über einen schon lange Verstorbenen. Im dritten Teil geht die Reise nach Comacchio, ins Po-Delta. Wanderungen führen durch endlose Salzgärten. Vögel und Aale sind immer wiederkehrende Motive, ebenso der Bernstein. Ausflüge führen nach Ferrara und zu den Mosaiken von Ravenna. M. taucht nur noch als Schatten auf einem zufällig in einem Nebenfach der Kameratasche gefundenen Negativstreifen auf. Die Erzählerin ist nun zu einer Hinterbliebenen geworden.

„Hain“ ist sorgfältig und beeindruckend konstruiert, voller Bezüge und Anspielungen, die allerdings niemals gezwungen daherkommen. Handlung gibt es so gut wie keine, der Leser muss sich der Langsamkeit der Streifzüge Ich-Erzählerin, die sicher sehr viel mit der Autorin gemein hat, anpassen, ihren Gedanken, Erinnerungen und Reflexionenfolgen. Es ist, wie ein Kritiker schreibt, ein „Trauergesang“, aber ein völlig unsentimentaler, ernst, streng, fast schon asketisch. Die Sprache ist spröde, aber dennoch kommt eine gewisse Poesie auf.

Ich bin diesen Wanderungen durch graue, einsame Landschaften, über steinerne Friedhöfe, durch Kunst und Literatur und die große Trauer der Erzählerin gerne gefolgt. Und fand sie letztendlich erstaunlich trostreich.

Beitragsbild: Serpentaralandschaft bei Olevano, Gemälde von Paul Weber, um 1860 CC0 via Wikimedia commons

Weitere Besprechungen bei Literatur leuchtet, Letteratura und Fräulein Julia

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Esther Kinsky - Hain.

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Esther Kinsky – Hain. Ein Geländeroman

Suhrkamp Verlag Februar 2018, Gebunden, 287 Seiten, € 24,00

3 Gedanken zu „Esther Kinsky – Hain

  1. Schöne Besprechung.
    Kommt den Empfindungen bei der Lektüre dieses berührenden Buches sehr nahe.
    Ich werde weitere Kritiken von Ihnen lesen, vielleicht finde das eine oder andere lesenswerte Buch.
    Kinsky setzt den Maßstab sehr hoch. 🙂
    Freundliche Grüße!

  2. Eine tolle Besprechung! Und wieder so fein mit Bildern unterlegt! Schön, dass es dir auch gefallen hat. Ich habe mir jetzt auch noch ihren Roman „Am Fluß“ zugelegt, wegen der schönen Sprache.
    Liebe Grüße!

  3. Klingt bei Dir gar nicht mehr so abschreckend, wie ich dachte. Gerade die Bezüge zu Bassani würden mich interessieren. Vielleicht überwinde ich mich ja doch noch…

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