Die Entdeckung des finnischen, schwedisch schreibenden Schriftstellers Johan Bargum für den deutschen Buchmarkt verdanken wir vermutlich der Frankfurter Buchmesse, dessen Gastland Finnland 2014 war, der Roman „Septembernovelle“ erschien damals, ein subtil-raffiniertes Drama auf hoher See, das folgerichtig im Hamburger Mare Verlag eine Heimat fand. Nun erschien von Johan Bargum ein genauso schmales Werk, Nachsommer, das wieder im Spätsommer angesiedelt ist (genauso lautet sein Originaltitel: „Sensommar“; warum im Deutschen der sehr nach Adalbert Stifter klingende „Nachsommer“ daraus wurde ist eines der Rätsel der Titelgebung) und das aufgrund seiner Meeresnähe, hier ein im finnischen Schärengarten gelegenes Sommerhaus, dankenswerterweise wieder bei Mare erscheint. Das schwedische Original stammt bereits aus dem Jahr 1993.
Nur 142 Seiten benötigt Johan Bargum für seine psychologisch ausgesprochen fein beobachtete Familienstudie.
Olof, der alleinstehende Musikkritiker und sein jüngerer Bruder Carl, der mit seiner Familie schon lange Zeit als erfolgreicher IT-Experte in den USA lebt, und die schon genauso lange keinen Kontakt mehr zueinander haben, treffen im erwähnten Sommerhaus der Mutter wieder aufeinander. Hierhin hat sich Gertrud nach ihrem Krankenhausaufenthalt zurückgezogen. Ihre Krebserkrankung ist austherapiert, sie wird sterben. Die Tage im Spätsommer, alle Feriengäste sind bereits abgereist, sind geprägt von ganz alltäglichen Verrichtungen, Einkäufen, Kochen, Reparaturarbeiten. Gleichzeitig ist von Beginn an eine untergründige, aber deutlich spürbare Spannung zwischen den Brüdern vorhanden. Sie reicht weit in die Kindheit und Jugend der Beiden zurück, in der die Mutter immer wieder Carl, den Charmanten, Sportlichen, Pragmatischen, seinem Bruder vorzog, mit geradezu unglaublicher Konsequenz. Der Vater starb früh, Olof konnte mit diesem Verlust damals offensichtlich nicht richtig umgehen. Wir erfahren diese Vorgeschichte in Rückblenden, erinnerten Episoden, die genau wie die Gegenwartsebene von Olof erzählt werden. Zwischen den Brüdern herrscht ein aggressives, aufgeladenes Schweigen, aber auch das Verhältnis zur Mutter und ihrem Lebenspartner, „Onkel“ Tom ist nicht unbelastet. Mit dabei im Fereienhaus sind außerdem die resolut-witzige Krankenpflegerin Heidi und Carls Familie. Seine Frau Klara hat an der gespannten Familiensituation ihren ganz eigenen Anteil. Dieser enthüllt sich, wie manches andere, erst nach und nach. Die Spannungen scheinen dabei langsam zu eskalieren, auch dadurch entsteht ein enormer Erzählsog.
Doch Johan Bargum lässt in Nachsommer auch Leerstellen, gibt dem Leser Raum. Das ist genauso positiv wie die vielen Ambivalenzen bei den Personen, die er ihnen lässt. Jeder der Protagonisten hat seine positiven wie seine negativen Seiten, Verhaltensweisen, Abgründe.
Trotz seiner melancholischen Grundstimmung, ist der Text durchaus auch mit feinem Humor durchsetzt und sehr leichtfüßig erzählt. Und das, obwohl er ganz existentielle Fragen verhandelt. Eine immer wiederkehrende davon läutet das Erzählte ein:
„Weiß man eigentlich jemals, was vor sich geht?“
Wie weit ist man Herr seiner eigenen Geschichte? Wie groß kann das Bedauern über verpasste Chancen werden? Erreicht irgendwann jeder einmal den Punkt, an dem er alles, das eigene Leben vorneweg, in Frage stellt?
Das Alles kommt, wie gesagt, ganz leicht daher. Nachdenkliche und heitere Episoden wechseln sich ab, dazu kommen atmosphärisch dichte Beschreibungen der Natur in der Schärenlandschaft. Diese ist, wie auch der Garten rund ums Sommerhaus, immer wieder auch Zuflucht für die Protagonisten.
Johan Bargum schreibt äußerst reduziert, klar, schnörkellos. Der schmale Roman liest sich schnell und leicht. Aber er bietet dem Leser Raum und hallt noch einige Zeit nach.
Beitragsbild: Schärenmeer Turku by Hajotthu [CC-BY-SA-3.0], from Wikimedia Commons
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Aus dem Schwedischen von Karl-Ludwig Wetzig
Mare Verlag Februar 2018. gebunden, 144 Seiten, € 18,00
„Septembernovelle“ habe ich gerne gelesen, eine kurze, intensive Geschichte.
Hier fehlt ein wenig der „Krimiplot“, sonst ist die Geschichte ähnlich intensiv.