Guadalupe Nettel – Nach dem Winter
„ Als unvollkommene Wesen, die in einer unvollkommenen Welt leben, sind wir dazu verurteilt, stets nur Stückchen vom Glück zu finden.“
Julio Ramón Ribeyro
Zunächst gilt es, den Winter zu überstehen – für die Protagonisten wie für den Leser. Es ist ein kalter, unwirtlicher, einsamer Winter. Die beiden Hauptfiguren verbringen ihn weit fort von ihrer Heimat. Sie sind moderne Migranten.
Claudio hat sich mit seiner verächtlichen, kühlen Art und seinem pedantisch geordneten Alltagsleben eine Bastion gegen die Enttäuschungen und Verletzungen der Welt errichtet, in die er nach Möglichkeit niemanden dringen lässt. Frühe Verlusterfahrungen führten ihn dazu.
Die zweite Ich-Erzählerin ist Cecilia, eine mexikanische Studentin der Literaturwissenschaften, die ihren Magister in Paris machen möchte. Paris, der Sehnsuchtsort (nicht nur) lateinamerikanischer Poeten, erweist sich als ein kalter, abweisender Ort mit mürrischen, abweisenden Einwohnern. Zum Glück lernt sie sehr bald die Kubanerin Haydée und ihren indischen Freund Rajeev kennen, eine kleine Migrantenfamilie bildet sich, die das Gefühl des Fremdseins und die Einsamkeit ein wenig mildern. Durch Bekannte ihres Vaters erhält Cecilia sogar eine eigene kleine Wohnung und freundet sich mit ihrem Nachbarn Tom an, auch er ein Migrant, aus Sizilien.
Cecilia und Tom eint eine Liebe zu Friedhöfen, deren berühmtester in Paris, der Père Lachaise, sich direkt gegenüber ihres Hauses befindet. Aber auch die anderen Pariser Friedhöfe werden besucht. Tom fühlt nicht nur eine tiefe Verbindung mit den Verstorbenen, vor allem den vielen Schriftstellern und Musikern, die hier begraben liegen, sondern er ist aufgrund einer ernsten, unheilbaren Erkrankung selbst dem Tode nahe.
Guadalupe Nettel lässt nun auf einer Party in Paris Cecilia und Claudio aufeinandertreffen und sich ineinander verlieben. Claudio sofort und schwärmerisch, Cecilia eher ein wenig zögerlich. Der Leser fragt sich verwundert, was diese beiden Menschen zueinander hinzieht. Und tatsächlich bleibt ihre Affäre nur eine kurze, ungefähr in der Mitte des Romans, bevor sich ihre Leben wieder voneinander fort bewegen.
In einem Interview sprach die Autorin folglich auch von einem „Anti-Liebesroman“.
Es ist vor allem ein Roman über das Gefühl des Fremdseins, der Einsamkeit von Menschen fern ihrer Heimat. Ein Buch auch über Verluste und Enttäuschungen, aber ebenso über das kleine Glück, das unvollkommene, das so oft übersehen wird, weil wir „unvollkommene Wesen in einer unvollkommenen Welt“ sind.
Guadalupe Nettel hat mit Nach dem Winter keinen autobiografischen Roman geschrieben, aber sie hat viele persönliche Erfahrungen verarbeitet, zum Beispiel einen langen Aufenthalt in Paris (gegenüber Père Lachaise), die Freundschaft zu einem todkranken Mann dort, das Fremdsein. Manche Passagen hat sie nach einem damals geführten Tagebuch gestaltet.
Dennoch lohnt sich das Lesen von „Nach dem Winter“, besonders da es tatsächlich hoffnungsvoll, wenn auch nicht als Happy-End endet.
Guadalupe Nettel hat 2009 bereits den Anna-Seghers-Preis erhalten, trotzdem ist dies ihr erstes ins Deutsche übersetzte Buch. Man darf auf weitere hoffen und gespannt bleiben.
Beitragsbild: Père Lachaise under the snow By Amelia Wells (Flickr: & then, the snow) [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons
Eine weitere Besprechung findet ihr bei Letteratura
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Guadalupe Nettel – Nach dem Winter
Aus dem Spanischen von Carola Fischer
Originaltitel: Después del invierno
Blessing Verlag März 2018, Gebunden, 352 Seiten, € 22,00
oh ich glaube das brauche ich
Das ist ein toller Tipp für mich, wird sogleich notiert. Vielen Dank dafür und viele Grüße
Liebe Grüße zurück!