Sechs Titel sind mittlerweile im Rahmen des Hogarth Shakespeare Projekts auf Deutsch erschienen. Lediglich Jo Nesbøs Fassung des Macbeth und Gillian Flynns Hamlet stehen noch aus, auf letzteres müssen wir wohl auch noch bis 2021 warten. Zeit, um mit der Fassung des „Othello“ von Tracy Chevalier, „Der Neue“, schon einmal ein kurzes, ganz subjektives Resümee zu schreiben.
Ich bin ein großer Freund der Stücke von William Shakespeare. Ein besonderes Erlebnis war es, den „Kaufmann von Venedig“ im Globe Theatre zu erleben. Deshalb war ich auch umso begeisterter, dass der Knaus Verlag mit Howard Jacobsons „Shylock“ dieses großartige Projekt auch nach Deutschland brachte. Zeitgleich erschien „Der weite Raum der Zeit“, für mich, neben Margaret Atwoods „Hexensaat“, das gelungenste Werk dieser spannenden Auseinandersetzung moderner Bestsellerautoren mit den 400 Jahre alten Stücken des großen englischen Theatermachers.
Die drei erwähnten Romane haben es für mich am besten geschafft, den Dramen Shakespeares eine neue Dimension, Deutung und dadurch Aktualität zu verleihen. Liest sich „Shylock“ zwar ein wenig sperrig, zielt er doch mit seinen philosophischen Diskursen ähnlich wie Winterson mit ihren Reflexionen über die Zeit, weit über eine reine Modernisierung oder Nachdichtung hinaus. Und Margaret Atwoods Fassung des „Sturm“ ist sprachlich ein derartiges Feuerwerk, dass das Lesen einfach viel Spaß macht.
Dennoch muss ich zugeben, dass meine Erwartungen und Hoffnungen in das ganze Projekt bisher nicht ganz erfüllt wurden. Insgesamt wagen die Autoren es nicht, vielleicht aus Respekt vor dem großen Ahnen, sich allzu weit vom Original zu entfernen und dadurch etwas wirklich Weitreichendes zu schreiben. Shakespeares Themen sind auch heute noch aktuell genug, um daraus Geschichten zu entwickeln, die für sich alleine stehen können. Die meisten der hier vorliegenden Titel machen für mich leider nur im Bezug zum Original, im direkten Vergleich, als Referenz an den bewunderten Dramatiker wirklich Sinn und Spaß. Auch das ist natürlich nicht zu gering zu schätzen. Aber ob es Ann Tylers harmlose Annäherung an „Der widerspenstigen Zähmung“ („Die störrische Braut“), die turbulent-sarkastische Version des „König Lears“ von Edward St. Aubyn („Dunbar und seine Töchter“) oder auch nun Tracy Chevaliers „Othello“-Umsetzung ist, bleiben alle Texte und Autoren meiner Meinung nach unter ihren Möglichkeiten.
Tracy Chevalier hat in einem Interview geäußert, „Ich brauchte mir weder eine Geschichte noch Personen auszudenken, ich brauchte lediglich einen Schauplatz, an den ich die Geschichte anpassen musste.“
Das ist eindeutig ein Problem dieses Buchs. Hier fehlt die zündende Idee, die Dringlichkeit dahinter, es wirkt tatsächlich nur wie eine halbherzig umgesetzte Modernisierung des alten Stoffs.
Tracy Chevalier hat das Drama auf einen Schulhof des Jahres 1974 in einer amerikanischen Vorstadt vermutlich Washington DCs verlegt. Es geht um Rassismus, um die Außenseiterrolle eines Zwölfjährigen schwarzen Jungen, der neu an eine Schule kommt. Sein Vater ist Diplomat aus Ghana, die Familie gutsituiert und gebildet, die gewählte Schule eine der besseren, bisher allerdings nur von weißen Schülern besucht. Osei, genannt O, fällt dementsprechend auf, zumal er auch ein guter Sportler und von freundlichem Wesen ist.
Interessant ist, dass die Autorin für das ganze Geschehen einen einzigen Schultag wählt. Das ist originell, bedingt aber, dass alles relativ oberflächlich bleibt und die sich nun entspinnende Intrige – nach Shakespeare recht verwickelt – sich nicht sehr überzeugend entwickelt.
Ian, der bisherige, etwas unterkomplexe „Chef des Schulhofs“, entdeckt in O nämlich sofort einen drohenden Konkurrenten. Mit einer einem Zwölfjährigen kaum abzunehmenden Raffinesse und Kaltblütigkeit zieht er rachsüchtige Fäden (wo so viel Rachlust am ersten Tag herkommt, bleibt unklar) zwischen O, Daniela, die schon an diesem ersten Schultag zarte Bande zu dem „Neuen“ knüpft, dem sie heimlich verehrenden Rod, der Schulhofschönheit Blanca und ihrem Freund, dem allseits beliebten Casper und Danielas bester Freundin Mimi. Wie gesagt, wie sich diese Intrige tatsächlich entspinnen kann und dann in ihrem dramatischen Ende (ganz nach Shakespeare-Art mit Tod und (Selbst)mord), ist meines Erachtens nach nicht wirklich schlüssig entwickelt. Jago bleibt für seine perfiden Machenschaften eindeutig mehr Zeit (außerdem handelt es sich bei ihm nicht um einen Schüler der Unterstufe).
Tracy Chevalier setzt die Figuren nicht eins zu eins auf ihre von Shakespeare vorgegebenen Plätze. Das ist genauso wenig schlimm wie die Tatsache, dass sie den Nebenplot von „Othello“ um die türkische Invasion und den bevorstehenden Krieg völlig unter den Tisch fallen lässt. Neben den oben angesprochenen Punkten finde ich es eher problematisch, dass sie die Handlung ins Jahr 1974 verlegt. Etwas, dass sie für die Reaktion der Schüler und Lehrer auf den dunkelhäutigen „Neuen“ braucht, und heute so nicht mehr finden würde. Andererseits beraubt sie sich dadurch der Möglichkeit, wirklich Aktualität in die Geschichte zu bringen. Auch heute kann man in leicht veränderter Form reichlich Rassismus und Ausgrenzung finden. Mit seiner Historisierung raubt man dem Thema die Brisanz, es wirkt ein wenig angestaubt.
Der größten Einwand, den ich allerdings habe, betrifft die doch relativ stereotype Personenzeichnung. Das mag vielleicht sogar beabsichtigt sein, zeitgemäß ist es aber nicht. Die Figuren sind entweder abgrundtief böse, wie Ian, der auch am tragischen Ende ungerührt bleibt und auf die Frage „Warum hast du das gemacht?“ nur achselzuckend antwortet, „Weil ich es kann“, oder rassistisch-verbohrt wie der Lehrer Brabant oder naiv-dümmlich wie die Lehrerin Miss Lode. Klar, für Entwicklungen ist an einem einzigen Tag kein Platz, aber Charaktere sind in der Regel nicht so eindimensional. Am Ehesten passt diese Eindimensionalität zum Setting, dem Schulhof und seinen jugendlichen Nutzern. Als Jugendroman funktioniert „Der Neue“ bestimmt sehr gut. Ausgrenzung, den Platz in einer Gemeinschaft suchen, erste Liebeleien und die daraus entstehenden Verwicklungen, das sind Themen, die ein jüngeres Publikum sicher sehr ansprechen, gut geschildert sind und dann die Schwächen des Romans vergessen lassen. Die einfache, wenn auch nicht simple Sprache, zeigt in dieselbe Richtung. Dass Jugendliche darüber hinaus Kontakt zu einem der bedeutendsten Dramen erhalten, spricht auch für dieses Buch.
Für mich war es aber dann doch leider zu wenig.
Beitragsbild: Skt. Anna Gade by Lav Ulv (CC BY 2.0) via flickr
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Tracy Chevalier – Der Neue
aus dem Englischen von Sabine Schwenk
Originaltitel: New Boy
Knaus Verlag April 2018, Gebundenes Buch, 200 Seiten, € 18,00
Danke fürs Verlinken! Ich hab das Buch meinem 13-jährigen Sohn empfohlen, und es hat ihm sehr gefallen, es wäre also offensichtlich tatsächlich gut in der Abteilung „Jugendliteratur“ aufgehoben.