Kriminalromane aus Japan sind zur Zeit ein wenig in Mode. Zwar sind sie zahlenmäßig gegenüber der Flut an Frankreich-, Italien- und Provinzkrimis immer noch eine Randerscheinung, aber Namen wie Fuminori Nakamura („Der Dieb“, „Die Maske“) oder Keigo Higashino („Unter der Mitternachtssonne“, „Verdächtige Geliebte“) sind mittlerweile auch in Deutschland ein Begriff. Zu der Spannung, die der Krimiplot bietet gesellt sich hier noch der Einblick in eine Gesellschaft, die trotz ihrer wirtschaftlichen und politischen Nähe zum Westen doch immer noch ein wenig fremdartig und unbekannt erscheint. Bei Hideo Yokoyama und seinem unlängst (etwas unglücklich als „Thriller“ bezeichnet) auf Deutsch erschienenem Roman „64“ beginnt dieses Fremdartige bereits im Titel.
64 bezeichnet nämlich nach der traditionellen japanischen Zeitrechnung das 64. Jahr der Shōwa-Zeit. Diese auch im modernen Japan durchaus noch präsente Art der Jahreszählung richtet sich nach jeweils einer Ära. Wurden diese Ären in der Zeit vor 1868 recht willkürlich von den japanischen Kaisern bestimmt, beginnen sie seitdem immer mit dem Amtsantritt eines neuen Kaisers und enden mit seinem Tod. Die Shōwa-Zeit bezeichnet die Jahre der Regierungszeit des Tennō Hirohito von 1926 bis 1989. Shōwa 64 ist gleichzeitig das letzte Jahr dieser Ära, einer Ära der großen Umbrüche für Japan, die Blütezeit des japanischen Imperialismus, aber auch sein radikaler Untergang mit der Niederlage und Kapitulation im Zweiten Weltkrieg, Zeit der Katastrophen von Hiroshima und Nagasaki, aber auch des rasenden Aufstiegs zur Wirtschaftsmacht. Showa 64 war ein Jahr, das lediglich eine Woche dauerte, denn am 7. Januar 1989 verstarb der Tennō. Eine Epoche ging zu Ende. Sicher kein zufällig gewähltes Jahr für diesen Roman.
Ein Roman, ein Kriminalroman, besser noch ein Polizeiroman, aber eigentlich kein Thriller. Diese Bezeichnung erweckt unter Umständen Erwartungen, die Hideo Yokoyama mit 64 trotz einer ganz eigenen hohen Spannung nicht erfüllen kann und wohl auch gar nicht will.
Zehn Jahre hat der investigative Journalist und Autor Hideo Yokoyama (Jahrgang 1957) an diesem Werk gearbeitet. Anfang der 2000er Jahre war er bereits mit einigen Romanen in seinem Heimatland sehr erfolgreich, musste aber aufgrund gesundheitlicher Probleme zurückstecken. 2013 erschien dann „64“ unter dem Originaltitel „Rokuyon“ und wurde ein reisiger Erfolg mit Millionenauflage. Der Rokuyon-Kalender bezeichnet in einem Sechstage-Zyklus sogenannte Glücks- und Unglückstage, nach denen traditionell wichtige Unternehmungen geplant werden. Auch das etwas, das unserem Kulturkreis eher fremd ist.
So liegt der große Reiz und die Spannung, die „64“ entwickelt, auch zum großen Teil in den Einblicken, die der Leser in die japanische Gesellschaft und in kulturkonzeptionelle Fragen gewinnt. Der eigentliche Kriminalfall wird daneben fast zur Nebensache.
Dabei beginnt die Geschichte ganz privat. Yoshinobu Mikami, seines Zeichens Pressedirektor der Polizei in der nicht näher lokalisierten Präfektur D und seine Frau Minako sind zu einer Identifizierung ins Leichenschauhaus gerufen worden. Ihre halbwüchsige Tochter Ayumi ist seit einiger Zeit verschwunden. Dass es sich bei der Leiche nicht um Ayumi handelt, beruhigt nur vorübergehend. Die Ungewissheit und die Selbstvorwürfe, die sich gerade der Vater macht, belasten die Ehe und den Alltag. Minako traut sich kaum noch aus dem Haus, könnte sie doch einen dieser „Schweigeanrufe“ verpassen, die in letzter Zeit mehrmals vorgekommen sind und hinter denen sie ihre Tochter vermutet.
Mikami selbst steht auch beruflich unter großem Druck. Ein ungelöster Kriminalfall aus dem Jahr Shōwa 64, der kurz vor der Verjährung steht, soll durch den Besuch des Generalinspektors aus Tokio noch einmal neuen Wind erhalten. Damals ist die siebenjährige Shoko entführt und trotz Lösegeldzahlung ermordet worden. Der Täter wurde nie gefasst. Nun, vierzehn Jahre später, soll Mikami eine Medienkampagne leiten, in der der Vertreter der Nationalen Polizeibehörde Tatort und Angehörige des Opfers öffentlichkeitswirksam aufsucht. Der Vater der kleinen Shoko möchte da aber nicht mittun und immer mehr gewinnt Mikami den Eindruck, dass bei den damaligen Ermittlungsarbeiten Unregelmäßigkeiten und Pannen aufgetreten sind, die anschließend vertuscht wurden. Mikami, der früher ebenfalls Teil des KUA (Kriminaluntersuchungsamt) war, hört von einem geheimen sogenannten Koda-Memo und einem „Maulkorberlass“ und beginnt auf eigene Faust nachzuforschen. Dabei legen ihm nicht nur die ehemaligen Kollegen vom KUA jede Menge Steine in den Weg, sondern auch seine eigene Verwaltungsabteilung, die sich mit dem KUA in beständigem Kompetenzgerangel befindet, übt nicht unbeträchtlichen Druck aus. Hinzu kommt die Presse, die sich unzureichend informiert fühlt und Drohungen ausstößt. Mikami muss sich durch diese Drohungen und durch tumultartige Szenen hindurchlavieren und gleichzeitig den damaligen Fall nicht aus den Augen verlieren. Zunehmend wird ihm klar, dass da ganz andere Interessen mit im Spiel sind und die Behörden ihr ganz eigenes Süppchen kochen.
Auf 760 Seiten, in 81 relativ kurzen Kapiteln, entfaltet Hideo Yokoyama in 64 ganz langsam und raffiniert das Geflecht dieser Polizeibehörden, ihrer Kompetenzstreitigkeiten, Eifersüchteleien und Intrigen. Auch in hiesigen Krimis kämpfen die Ermittler immer wieder einmal gegen die eigenen Leute (meist in der Staatsanwaltschaft), aber was hier für ein Sumpf von Eitelkeiten und Missgunst aufgedeckt wird, ist schon überwältigend. Die Liste der Hauptprotagonisten umfasst 44 Personen, fast alle im aktiven oder ehemaligen Polizeidienst. Mikami ist darunter nur das eine Rädchen, auf dem allerdings die alleinige Perspektive des Romans ruht. Ihm gegenüber steht der übermächtige Apparat. Auch die Presse scheint in Japan ungewöhnlich aggressiv und mit großer Macht ausgestattet zu sein. Andererseits wirbt die Polizei auf sehr offensive Weise um sie. Saufgelage und Barbesuche gehören hier zur Öffentlichkeitsarbeit. Eine eigenartige Mischung aus Fremdheit und Vertrautheit stellt sich bei diesen Schilderungen des Systems Polizeibehörde und der ihr innewohnenden Mechanik ein. Auch Mikamis Mitarbeiterin Mikumo trägt dazu nicht unerheblich bei. Wie sie behandelt wird, lässt immer wieder die Rolle der Frau in Japan, aber letztendlich natürlich auch bei uns, überdenken.
Diese akribischen Schilderungen der Ermittlungs- und Pressearbeit verlangen vom Leser einen recht langen Atem und auch ein prinzipielles Interesse an solch genauen Gesellschaftsstudien. Dann entwickeln sie aber eine ungemeine Spannung und gewähren einen tiefen Einblick in das moderne Japan. Loyalität, Wahrung des Gesichts, Unterordnung des Einzelnen, Respektierung der Hierarchien, Konflikte zwischen persönlichen Idealen, der Moral und den Konventionen – diese Dinge entwickeln hier noch einmal eine ganz eigene Dringlichkeit. Auch der grüblerische Mikami als Ermittler ist so in einem „westlichen“ Krimi eher schwer denkbar. Er geht zwar durchaus seinen eigenen Weg, aber der Konflikt mit den übergeordneten Instanzen eskaliert nie. Viele Wege, die er beschreitet, erweisen sich als Sackgassen. Unterstützung bleibt im Wesentlichen die Ausnahme. Er laviert sich hindurch, widersteht mehr als dass er agiert.
Erst im letzten Teil gewinnt der Krimiplot dann noch einmal richtig Fahrt. Eine weitere Entführung geschieht und ungeahnte Verbindungen zu Fall Aktenzeichen 64 und auch Ayumis Verschwinden tun sich auf. Das ist raffiniert und gekonnt konstruiert und nüchtern erzählt. Hideo Yokoyama rundet den Fall schlüssig, lässt aber auch einige Fragen wohltuend offen.
In Amerika (das Buch ist tatsächlich nicht aus dem Original, sondern aus dem Englischen übersetzt) hat das Buch Begeisterungsstürme ausgelöst und auch in der deutschen Kritik wurde es sehr positiv aufgenommen. Von „großer Literatur“, „Nobelpreis“, „Henry James“ und den „Abgründen der Pflicht“ war da die Rede. Diese Bezugsgrößen sollte man eher heranziehen als die Bezeichnung „Thriller“, die das deutsche Cover ziert. Dann wird man das Buch mit großem Gewinn lesen.
Beitragsbild: Chureito Pagoda – Fujiyoshida-shi, Japan by Giuseppe Milo ( CC BY 2.0) via Flickr
Dieser Beitrag erschien auch im Rahmen eines Japan-Specials auf Literaturkritik.de. Danke an Alex von Letusreadsomebooks!
Auch Gunnar von Kaliber.17 hat das Buch gelesen und besprochen.
Auch Hideo Yokoyamas kurzen Roman 2 habe ich bereits besprochen
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Hideo Yokoyama – 64
aus dem Englischen von Sabine Roth und Nikolaus Stingl
Atrium Verlag Februar 2018, gebunden, 768 Seiten, 28,00 EUR
Ich schleiche da schon eine Weile drum herum, aber jetzt haben es mir doch zu viele schmackhaft gemacht, so dass ich es doch mal lesen möchte. 😉
LG, Gunnar
Wäre sehr gespannt auf dein Urteil. Könnte mir vorstellen, dass das was für dich ist. Aber sicher kann man da ja nie sein. Ich fand es außergewöhnlich, nicht gerade hochspannend, aber sehr gut. Viele Grüße!