Bereits 1990 veröffentlichte Gert Loschütz einen autobiografisch inspirierten Text über die Flucht seiner Familie aus dem brandenburgischen Plothow nach Mittelhessen im Jahr 1957. „Flucht“ war dieses Buch schlicht betitelt und kreiste in erster Linie um die Folgen, die diese für den damals elfjährigen Ich-Erzähler hatte. Auch im neuen Roman von Gert Loschütz, „Ein schönes Paar“, ist wieder Dillenburg Handlungsort
Gert Loschütz ist ein eher zurückhaltender, zwar hoch angesehener, aber eher am Rande des deutschen Literaturbetriebs stehender Autor. Gedichte, Theaterstücke, Novellen, und dann dieser schmale Roman. Danach dauerte es bis 2005, dass mit „Dunkle Gesellschaft. Roman in zehn Regennächten“ wieder ein größeres Werk erschien, das sogleich auf der Shortlist des neu geschaffenen Deutschen Buchpreis landete. 2006 folgte sehr schnell sein Roman „Die Bedrohung“. Und nun, zwölf Jahre später, knüpft „Ein schönes Paar“ direkt an das 28 Jahre zuvor erschienene „Flucht“ an.
Der Ich-Erzähler trägt einen anderen Namen, alle anderen Eckdaten sind gleich und decken sich mit Gert Loschütz´ eigener Biografie.
Da ist das fiktive Plothow in der DDR, in dem beide Ich-Erzähler 1946 geboren werden. Die Eltern, hier Georg und Herta Karst, lernen sich 1939, kurz vor dem Krieg kennen und heiraten 1942. Ihre Geschichte, eine Liebesgeschichte, die vor allem durch Abwesenheit geprägt war, erzählt der neue Roman.
Durch eine gute Portion Naivität gerät der Vater 1957, es war ein Jahr nach dem Ungarn-Aufstand, der Kalte Krieg gewann an Intensität, in Schwierigkeiten. Er war bei einem Besuch im Westteil Deutschlands mit einem Freund mal „eben so“ bei der neu gegründeten Bundeswehr vorbeigegangen. Nach seiner Rückkehr erhällt er nun von dort ein Einladungsschreiben. Die Brisanz dieser Post mit dem Absender des feindlichen Verteidigungsministeriums ist ihm sofort klar. Er entscheidet sich für die sofortige Flucht in den Westen. Frau und Sohn folgen ihm bald in die mittelhessische Stadt Tautenburg, die nur unschwer als Dillenburg zu identifizieren ist. Der Stadt, die von ihrem Wilhelmsturm wie von einem „Zeigefinger überragt“ wird.
Ich wohne selbst in der Nähe und konnte Gert Loschütz im Juni auf einer Lesung hier erleben. Die fiktiven Namen verwendet er laut eigener Auskunft nur, damit sich der direkte Vergleich verbietet. Was natürlich trotzdem geschieht. Auch ich bin den Spuren in Dillenburg gefolgt und kann bestätigen, dass alles wie auch in „Flucht“ sehr detailgenau geschildert ist. Lediglich ein sehr wichtiger Punkt differiert in den beiden autobiografischen Romanen. Und leider hatte ich zum Zeitpunkt der Lesung das Buch noch nicht gelesen, sonst hätte ich unbedingt nachgefragt.
Stirbt die Mutter im Roman von 1990 nach einer relativ kurzen Zeit der Anpassungsschwierigkeiten in der neuen Heimat, so verschwindet sie im neuen Buch eines Tages. Vorangegangen ist dem ein unglückseliger Vorfall, bei dem sich der Vater bei seiner neuen, recht guten Anstellung aus dem Firmentresor Geld „borgte“. Eine recht kleine Summe, die er zudem am nächsten Tag unbemerkt ersetzen wollte. Nun wurde das Fehlen aber doch entdeckt und, noch schlimmer, vom Chef zu einer viel höheren Summe umgedichtet. Der Vater muss ins Gefängnis. Um den Chef zum Zurückziehen der Anzeige zu bewegen, fängt die Mutter eine Affäre mit diesem an. Das ist zwar erfolgreich, wird aber vom Sohn entdeckt und führt schließlich zur Trennung der Eltern. Nach kurzer Zeit in getrennten Wohnungen am Ort verschwindet Herta für dreißig Jahre spurlos. Lediglich sporadische Postkarten an den Sohn kommen an. Und dann ist sie eines Tages wieder da, knüpft an die Beziehung mit Philipp an, meidet aber den Vater. Zur Scheidung kommt es nie. Und erst nach dem Tod der Eltern, der ziemlich dicht aufeinander erfolgt, erfährt der Sohn, dass deren Verbindung nie wirklich abriss.
Erzählt ist die Geschichte vom „schönen Paar“, wie bereits bei „Flucht“, rückblickend durch den Sohn. Sie beginnt mit einem Motiv, das sich durch das ganze Buch zieht – der Fotografie. Philipp ist Fotograf, er schaut sich eine antike Stereokamera an.
„Ein Stereoskop ist ein Gerät zum Betrachten von Stereobildpaaren, die mit einer Stereokamera aufgenommen wurden. Durch die geringe seitliche Abweichung entsteht der Eindruck räumlicher Tiefe: Man glaubt, den Porträtierten leibhaftig vor sich zu haben. Man blickt durchs Stereoskop und ist mit ihm allein. Da man dabei die Augen auf die Okulare pressen muss, sind alle anderen optischen Eindrücke ausgeschaltet, sodass man sich ganz auf die Gesichtszüge des Abgebildeten konzentrieren kann.“
Eine Kamera diente 1957 bei der Flucht für die Mutter auch als Investition für ihr Ostgeld, das im Westen keinen Wert mehr haben würde. Aber auch die Kamera erweist sich dort als unverkäuflich, und sei es nur, weil die Originalverpackung fehlt. Aber wer nimmt diese schon mit auf eine Flucht? Indirekt führt diese Kamera zu Georgs Verhaftung und schließlich zum Zerfall der Familie. Fotos sind es auch, die neben anderen Erinnerungsstücken beim Sohn während der Wohnungsauflösung den Erinnerungsprozess hervorrufen.
„Dies ist der Moment, in denen ich sie am deutlichsten sehe, dieses Bild, in dem ihre Verletzlichkeit am größten ist. Sie nebeneinander, ich betrachtete sie mit den Augen der anderen Leute in der Kapelle. Auch wenn ich nicht dabei war, sehe ich sie, wie sie von ihnen gesehen wurden: ein schönes Paar.“
Still und behutsam umkreist er die Frage, die ihn sein ganzes Leben begleitete: Was ist damals eigentlich genau geschehen? Warum ist die Mutter für so viele Jahre wortlos verschwunden? Und was machte die Beziehung seiner Eltern, die sich nie wirklich voneinander trennten und auch keine neuen Beziehungen eingingen, eigentlich aus? Er vollführt diese Spurensuche so zart und bedächtig wie wahrhaftig und genau. Dadurch schafft er nicht nur ein poetisches Porträt einer schwierigen Beziehung, sondern auch ein atmosphärisches Bild der „Schieferstadt“ im Mittelhessischen, die ihm das Ankommen nicht leicht machte.
„Ich ging über die Brücke, und als ich aufschaute, war es wieder die dunkle Stadt, die enge, die schiefergraue, die Luft abschnürende, und plötzlich war, wie ein alter Bekannter, der Hass da, den ich so deutlich nur hier spürte, in dieser Stadt, die ich besser als andere kannte, weshalb ich mich auf unselige Weise an sie gebunden fühlte.“
Der Autor, der sicher größtenteils mit dem Erzähler gleichgesetzt werden darf, verschränkt Vergangenheit und Gegenwart und lässt auch zahlreiche Leerstellen, nähert sich seinen Protagonisten, bedrängt sie aber nicht. Am Ende steht auch die Frage, was man über seine Eltern eigentlich weiß, wissen kann, sie hätte fragen sollen, als dies noch möglich war.
Vielleicht steckt auch ein klein wenig Ironie im Titel „Ein schönes Paar“, entspricht die Beziehung von Georg und Herta doch so gar nicht dem, was man darunter landläufig versteht. Und doch war es eine Beziehung, die so intensiv war, dass sie kaum Platz für den Jungen ließ.
„Es ist ein Foto ohne den Jungen, er fehlt nicht nur auf dem Bild, sondern in ihren Gesten, ihrem Blick, ihrer Zugewandtheit, seine fehlende Anwesenheit ist mit Händen zu greifen.“
Am Ende erzählt uns dieser wunderbare, leise, subtile Roman aber, dass tiefe Verbindungen auch anders aussehen können und schafft dafür eindrückliche, berührende Bilder. Zum Beispiel, wenn Philipp auf dem Dachboden des väterlichen Hauses unzählige Brandflecken von heruntergefallener Zigarettenasche genau unter dem Dachfenster findet, das genau auf das Seniorenheim blickt, in dem die Mutter ihre letzten Tage verbracht hat. Oder wie sich die beiden auf ihren jeweiligen Beerdigungen „besuchen“, die Mutter hinter Tannen versteckt im leuchtendroten Kleid, der Vater, der ihr vorangegangen war, in anderer Gestalt.
„Als er die Hände zum Segen erhob, jagten zwei Bundeswehrjets über das Tal, so tief, dass sie die Baumwipfel des gegenüberliegenden Bergkamms zu streifen schienen, und als ich aufblickte, sah ich am Zaun, an derselben Stelle, an der sie gestanden hatte, ein Kaninchen. Und da wusste ich, dass er auch gekommen war. Sie war im dunkelroten Taftkleid gekommen und er als Kaninchen.“
Davon gibt es natürlich keine Fotografien. Diese Bilder sind allein in der Erinnerung und Imagination des Sohnes vorhanden.
„Auch in diesem Bild sehe ich sie, sodass man vielleicht sagen kann, dass das ganze Erzählen nur einen einzigen Sinn hat: die auf keinem Film überlieferten Bilder aufzubewahren.“
Ein sehr schöner, sehr empfehlenswerter Roman.
Die Fotos zeigen Ansichten von Dillenburg ©Petra Reich
Weitere Besprechungen bei Zeichen und Zeiten und Leseschatz
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Gert Loschütz – Ein schönes Paar
Schöffling 2018, 240 Seiten., Gebunden, € 22,00
Besten Dank! Ich werde es weitererzählen, Erstens bin ich in Dillenburg zur Schule gegangen, zweitens haben Deine Bilder einen von mir nie so gesehenen Blick auf den Wilhemsturm überraschend ins Herz gespült, drittens ist Loschütz sicher lesenswert, viertens macht Deine Rezi neugierig und fünftens nochmal Danke!
Lieber Clemens, das freut mich jetzt wirklich sehr! Das sind so Momente, für die es sich zu schreiben lohnt (abgesehen von der Freude, die man daran hat). Einen alten WVOler hier zu treffen, hätte ich nicht erwartet. Beste Grüße! Und der Loschütz ist wirklich lesenswert!
Moin und vielen Dank für die nette Verlinkung zum Leseschatz!
Herzliche Grüße,
Hauke
Hallo Petra,
eine tolle Rezi von dir und besonders durch die Fotos wunderbar dargestellt. Diese Familiengeschichte ist eine ganz besondere und ich kann mir vorstellen, wie dieser Roman den Leser mitzieht.
Liebe Grüße
Barbara
Danke, liebe Barbara! Ein wirklich schöner Roman, der für mich durch den Ortsbezug noch mal ganz was Besonderes war. Liebe Grüße!
Das Buch kommt auf meine Wunschliste.
Lieber Andreas, das freut mich. Für mich ein ganz ganz schönes Buch. Ich hoffe, es gefällt dir ebenso. Viele Grüße!