Marion Poschmann – Die Kieferninseln

Marion Poschmann – Die Kieferninseln

„Er hatte geträumt, dass seine Frau ihn betrog. Gilbert Sylvester erwachte und war außer sich.“

So wenig außergewöhnlich ein solcher Traum ist, so aberwitzig und skurril ist Gilberts Reaktion darauf. Er stellt seine Frau Mathilde nicht nur aufs Schärfste zur Rede, sondern verlässt, als diese hartnäckig leugnet, äußerst erbost die Wohnung und nimmt den ersten verfügbaren Interkontinentalflug, um möglichst viel Raum zwischen sich und seine vermeintlich untreue Gattin zu schaffen. Dass es außerhalb seines Traumes keinerlei Hinweise auf eine eventuelle Untreue gibt, stört ihn dabei überhaupt nicht.

Diese reichlich überspannte Reaktion weist gleich zu Beginn genauso wie Gilberts ungewöhnliche Profession darauf hin, dass wir es hier mit einem besonderen Roman zu tun haben. Herr Sylvester ist nämlich Kulturwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Bartforschung. Seine Karriere steckt fest, auch für dieses neue Projekt stehen ihm nur Drittmittel zur Verfügung. Diese werden „gesponsert von der nordrhein-westfälischen Filmindustrie sowie zu kleineren Teilen von einer feministischen Organisation in Düsseldorf und der jüdischen Gemeinde der Stadt Köln“.

Fujiama
Sakasa Fuji  by 名古屋太郎 – 投稿者が撮影 ( CC BY-SA 3.0) via Wikimedia Commons

Schon ist man drin im Schmunzeln über diesen so klugen wie heiteren Roman, der 2017 auf der Shortlist zum deutschen Buchpreis stand.

Skurril und leicht surreal geht es weiter. In Tokio angekommen, besorgt sich Gilbert zunächst einmal ein paar japanische Klassiker. Besonders „Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland“, der Reisebericht des buddhistischen Mönchs und Haiku-Dichters Matsuo Bashō aus dem 17. Jahrhundert, der sich wiederum auf die Spuren des weitere fünf Jahrhunderte früher durch Japan wandernden und von ihm verehrten Dichter Saigyō machte, fasziniert ihn und er beschließt, dessen Spuren zu folgen.

Auf dem Hauptbahnhof trifft er allerdings zunächst einmal einen jungen Mann, der der seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Er trägt in einem allgemein eher bartlosen Land ein schütteres Ziegenbärtchen, eine Wohltat für unseren Bartforscher, der sich schon wegen seiner Abneigung gegen Tee in Japan eher fremd fühlt. Das Bärtchen, das Yosa Tamagotchi (!) trägt, wird sich später als falsch erweisen, eine Illusion, die nicht die letzte in diesem schmalen Roman bleiben wird. Gilbert hält Yosa nicht nur von seinem geplanten Selbstmord vor einem einfahrenden Zug ab – viel zu laut und überfüllt sei der Bahnhof für ein solches Unterfangen -, sondern begleitet ihn fortan von einem möglichen Todesort zum anderen. Geleitet werden sie von einem Buch. So absurd sich das anhört, ist dies doch real. 1993 veröffentlichte der Autor Wataru Tsurumi das „Komplette Selbstmordhandbuch“, das sich mittlerweile millionenfach verkaufte.

Nun ist Gilbert wahrhaft kein Sympathieträger. Besserwisserisch, voller Dünkel (auch) der japanischen Kultur gegenüber, penetrant, verbohrt und wahrhaft kein Menschenfreund, weiß man zunächst nicht, was ihn dazu bewegt, den jungen Studenten, der aus Prüfungsangst seinem Leben ein Ende setzen möchte, von seinem Tun abzuhalten. Gerade seine pedantische, miesepetrige Art scheint da aber genau das Richtige zu sein. Das Hochhaus in Tokios nördlichem Wohnviertel Takashimadaira sei zu grau und trostlos und der Selbstmordwald Aokigahara am Fuße des Fuji voll mit menschlichem „Müll“. So findet Gilbert an allen aufgesuchten Orten etwas auszusetzen und Yosa, höflichem Gehorsam gegenüber Älteren auch als Lebensmüder verpflichtet, beugt sich.

Selbstmordwald Aokigahara
Sea of forest  Aokigahara by elminium  (CC BY 2.0) via Flickr

Immer mehr ähnelt die von den Beiden eingeschlagene Route derjenigen des Dichters Bashō, deren Ziel die berühmten Kieferninseln bei Mutsushima in der Bucht von Sendai sind, allgemein zu den drei schönsten Plätzen Japans zählend und auch ein „Tipp“ im Selbstmordhandbuch. Der Leser verfolgt die Reise durch die miesepetrigen, stets seinen Bildungsdünkel herauskehrenden Monologe des Bartforschers. Gilbert nötigt zudem sich und seinen Begleiter auf der Reise zum Verfassen von Haikus, jener besonderen traditionellen japanischen Gedichtform, deren Regeln ich nun seit diesem Buch erstmals verstanden habe. Poetische, kontemplative Naturbetrachtungen sind eine wichtige Tradition in Japan, und auch Gilbert möchte sich als Bestandteil seiner inneren Abkehr von der Welt, Folge der Krise, die ihn anscheinend sowohl beruflich als auch privat gepackt hat, darin versuchen.

„Er war damit noch nicht sehr weit gekommen, aber schon der Ansatz überzeugt ihn. Mönchische Askese, Zurückhaltung und Bescheidenheit, Armut im Geiste. Auch sein eigenes Projekt der Abwendung bestand darin, einen Zwischenraum zu schaffen. Einen Raum zwischen ihm und der Gesellschaft, ihm und den sozialen Konventionen, ihm und den bizarren Zwängen des allgegenwärtigen Turbokapitalismus.“

Da ist offensichtlich jemand am Scheitern, vermag es aber nicht zuzugeben. Stattdessen verbarrikadiert er sich in seiner selbstgewissen Uneinsichtigkeit. Beispielhaft sind dafür die gestelzten, belehrenden Briefe, die er an Mathilde schreibt.

Nun also Naturbetrachtungen. Aber die Plätze, die Gilbert und Yosa aufsuchen sind so ganz anders, als erwartet. Ihnen fehlt jede Poesie und Romantik. Jahreszeitbedingt muss die Kirschblüte ausfallen, der Fuji ist ständig von Dunst umgeben und nicht zu sehen und auch die aufgesuchten Bashō-Orte entbehren ihre klassische Schönheit. So ist beispielsweise der „Oki no Ishi“ in Bashōs Dichtung, jener „Stein am offenen Meer“ mittlerweile nur noch ein Gesteinsbrocken inmitten einer Straßenkreuzung. Auch die Kieferninseln befinden sich in einer großen Baustelle, die die Folgen des großen Tsunamis aus dem Jahr 2011, beseitigen sollen. Die Katastrophe von Fukushima wird nicht groß thematisiert, schwingt aber immer mit.

Mit großem Vergnügen karikiert Marion Poschmann in Die Kieferninseln die gängigen Japan-Klischees, die ja nur deswegen Klischees, weil so omnipräsent sind. Die hohe Selbstmordrate aufgrund enormen Leistungsdrucks in einer durchrationalisierten, extrem formellen Gesellschaft findet genauso ihren Platz wie der Hang zu organisierter Meditation, die traditionelle Naturauffassung ebenso wie die klassische Poesie, Teezeremonien, Kabuki-Theater, Kirsch- und Ahornblüte – alles ist hier versammelt und wird liebevoll-satirisch betrachtet. Osten und Westen treffen mit dem vertrauten Unverständnis aufeinander.

Marion Poschmann - Die Kieferninseln
Sea Matsushima Bay Pine Public Domain via MaxPixel

Am Ende geht Yosa Gilbert verloren. Die Realität verschwimmt so wie die Kieferninseln im Meeresdunst. Uneindeutigkeit greift um sich. War Yosa wirklich eine reale Person? Plötzlich schreibt Gilbert die Haikus seines jungen Reisebegleiters selbst. Dessen Reisetasche taucht noch einmal kurz im Hotel auf, ist dann aber auch gleich wieder verschwunden. Das traumhafte Ende in diesem Roman, in dem Träume immer wieder eine Rolle spielen, kann auch so gelesen werden, dass Yosa nur eine (lebensmüde) Facette Gilberts darstellte. Nun, da er von ihm befreit ist, kann er sich auch der Ruhe der Natur und ihrer Schönheit und Poesie freier stellen. Nicht umsonst hat die Autorin 2017 als erste Preisträgerin den deutschen Preis für Nature Writing, der jährlich vom Verlag Matthes & Seitz Berlin und dem Bundesamt für Naturschutz verliehen wird, gewonnen. Auch dass sie von Haus aus Lyrikerin ist, wird sehr deutlich.

„Er drückte den Rücken an die warme Borke, schloss die Augen, horchte auf den Wind, der durch die Zweige fuhr, Harzgeruch. Knackende Zapfen. Raschelnde Nadeln. Knarrende Äste. Er schloss die Augen noch einmal, schloss die bereits geschlossenen Lider fester, sackte tiefer in die Müdigkeit hinein, ließ sich durchziehen vom Wind, vom Kiefernduft, vom Atem der Inseln.“

Und auch Hoffnung für seine Ehe mit Mathilde scheint nun möglich.

Marion Poschmann hat mit „Die Kieferninseln“ ein so originelles wir ungewöhnliches Buch geschaffen. Filigran und klug, so heiter wie abgründig. Eine wunderbar leichte und doch tiefgründige Lektüre.

 

Weitere Rezensionen bei Literatur leuchtet, beim Bookster HRO und eine interessante Betrachtung bei Comparaison d´´ être

Beitragsbild: Matsushima Bay by lienyuan lee [CC BY 3.0], via Wikimedia Commons

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Marion Poschmann - Die Kieferninseln.

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Marion Poschmann – Die Kieferninseln

Suhrkamp September 2017, gebunden, 168 Seiten, 20,00 € 

3 Gedanken zu „Marion Poschmann – Die Kieferninseln

  1. Pingback: Deutscher Buchpreis 2017 – Die Longlist – LiteraturReich
    1. Für mich ein toller Ansporn dafür, nicht immer nur Bücher zu lesen, die dem eigenen Beuteschema entsprechen. Ohne die vielen lobenden Worte und vllt.auch die Preisnominierung wäre mit dieses tolle Buch wihl entgangen. Liebe Grüße, Petra

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