Über die Neapolitanische Saga von Elena Ferrante, insbesondere die Lektüre von Band 3 und 4 ( Die Geschichte der getrennten Wege/des verlorenen Kindes) dieses fast 2200 Seiten umspannenden Werks, zu schreiben, ist gar nicht so einfach. Zum einen liegt die Erstveröffentlichung von „Die Geschichte des verlorenen Kindes“ nun schon ein halbes Jahr zurück, in der mittlerweile so kurzlebigen Buchbranche fast schon eine Ewigkeit. Zum anderen erschienen zu diesem Zeitpunkt oder kurz danach eine derartige Flut an Rezensionen und Buchvorstellungen sowohl in den Feuilletons der Printmedien als auch auf digitaler Ebene, dass schon alles gesagt scheint. Der Aufruhr um die geheim gehaltene Identität der Autorin und das Detektivspiel darum taten ein Übriges, dass gefühlt kein Leser europa-, wenn nicht gar weltweit dieses Buch gelesen, bewusst nicht gelesen, davon gehört und/oder sich dazu eine Meinung gebildet hat.
Nun, ich habe mir dieses (vermeintliche) Lesevergnügen bewusst für meinen Sommerurlaub aufgespart. Genügend Zeit am Stück, um in das Monumentalwerk völlig eintauchen zu können (das versprachen Kritiken und eigene Leseerfahrungen besonders des vierten Teils, „Die Geschichte der getrennten Wege“). Und jetzt möchte ich auch darüber schreiben und meine ganz persönlichen Leseerfahrungen schildern.
Ihr hört es heraus, diese waren zumindest etwas differenziert.
In der Regel machen mich Hypes immer ein wenig misstrauisch. Einige Male ließen sie mich bereits zu Büchern greifen, von denen mich mein Bauchgefühl eher abgehalten hat. Aber derart heiße Liebesbekundungen der Leser, sei es beispielsweise für „Das Ende der Einsamkeit“ von Benedict Wells oder „Unsere Seelen bei Nacht“ von Kent Haruf oder „Die Vegetarierin“ von Han Kang, ließen mich dann doch ein ums andere Mal schwach werden – für mich verlorene Lesezeit und der feste Vorsatz, das nächste Mal standhaft zu bleiben. Nun traf aber die allgemeine Beschreibung der Neapolitanischen Saga von Elena Ferrante genau meinem Beuteschema – Familiensaga mit gesellschaftspolitischem Hintergrund, Italien, Emanzipation, Bildung, 20. Jahrhundert -, und schon war ich wieder mit dabei.
Hatte mich der erste Band, „Meine geniale Freundin“ über die Kinderjahre der beiden 1944 geborenen, nahezu symbiotischen Freundinnen im ärmlichen Rione Neapels nur so leidlich unterhalten, sprachlich schlicht, aber mit einigen ganz gelungenen Spannungsbögen, vielen Informationen über das Leben der Arbeiterklasse in den Vierziger und Fünfziger Jahren in Italien und ausbaufähigen Charakteren mit einer interessanten Beziehungskonstellation voller Konkurrenzgedanken und einem explosiven Liebe/Hass-Gemisch, konnte mich Band 2, „Die Geschichte eines neuen Namens“ dann schließlich sehr begeistern und in seinen Bann schlagen. Der viel zitierte Sog trat ein und ich war mitten drin in der irritierenden Freundschaftsgeschichte von Elena/Lenu und Lina/Lila. Ihr permanentes Konkurrenzgerangel ging weiter, aber sie wurden zunehmend erwachsen. In ihren Jugendjahren erlebten sie die ganzen Zwänge, denen Frauen, zumal aus ärmeren Schichten, damals (und nicht nur damals) unterworfen waren. Die alltägliche Gewalt, die Aussichtslosigkeit, zunehmende Macht der Clans, schwierige Bildungs- und Aufstiegswege, aufkommende Sexualität, die Träume und Pläne der äußerst intelligenten Freundinnen – das alles verknüpfte Elena Ferrante zu einem zwar manchmal etwas ausufernden, aber immer im richtigen Moment wieder die Spannungskurve nehmenden Gesellschaftsbild des Italiens der 1960er Jahre. Und dann war da immer diese merkwürdig aufgeladene „Freundschaft“ der beiden Mädchen. Die Anführungszeichen, da bei all der Gemengelage von Verbundenheit und Hass, Konkurrenz, Solidarität und gnadenlosem Neid für mich wenig Freundschaftliches übrig blieb.
Am Ende des zweiten Teils trennten sich die Wege der Ich-Erzählerin Lenu von denen Lilas. Bereits in Band 1 wurde nicht wirklich klar, wer von beiden die „geniale Freundin“ darstellen soll. Intelligent und begabt sind beide. Während Lila die ihr innewohnende Genialität aber nicht nutzt, auch durch die fehlende familiäre Unterstützung, und aus Trotz eine viel zu frühe Ehe eingeht, die (auch) an der Gewalttätigkeit des Mannes scheitert, ein Kind bekommt und nach einer ebenfalls scheiternden Affäre mit dem auch von Lenu begehrten Schönling und Charmeur Nino in eine platonische Beziehung zum Arbeiter Enzo flieht, verwirklicht Elena das Programm „Aufstieg durch Bildung“. Ehrgeiziger und beharrlicher als Lila, durchläuft sie nicht nur sie Oberschule, sondern wird auch an der anerkannten Scuole Normale in Pisa angenommen und entwickelt sich zur erfolgreichen Schriftstellerin.
Hier setzt nun der dritte Band „Die Geschichte der getrennten Wege“ ein, der die Jahre 1969 bis 1976 umfasst.
Lila wohnt in einem trostlosen Hochhaus im Rione, zieht mit viel Anstrengung ihren Sohn Gennaro groß und schuftet in der Wurstfabrik, um sich und ihrem Lebenspartner Enzo ein Fernstudium der Informatik zu ermöglichen. Die „Herren“ der Gegend sind nach wie vor die Solara-Brüder, die der Camorra angehören. Lila arrangiert sich mit ihnen und erlangt durch sie eine einträgliche Anstellung, die ihr schließlich die Eröffnung einer eigenen, kleinen, aber sehr auskömmlichen Computerfirma ermöglicht.
Elena hingegen heiratet in einflussreiche Kreise hinein, ist aber mit dem intellektuellen Professor Pietro Airota nicht glücklich, fühlt sich durch die zwei Töchter, die sie bekommt, in ihrer Freiheit beschnitten und bei ihrer schriftstellerisch Tätigkeit behindert.
Und hier beginnt ein Problem, dass ich mit diesem und in gesteigertem Maße dem nachfolgenden Buch habe. Durch die Bank weg sind alle, aber auch wirklich alle Personen im Buch – und es gibt ein riesiges Tableau davon – permanent schlecht gelaunt, gereizt, aggressiv, intrigant, missgünstig, unzufrieden, maulend. Kann man das bei den in elenden, aussichtslosen Verhältnissen feststeckenden Bewohnern des Rione noch einigermaßen erdulden, gelingt es mir bei der in ihrer Wohlstandsblase lebenden Ich-Erzählerin und Hauptprotagonistin (und Alter-Ego der Autorin?) überhaupt nicht. Permanent krittelt sie an ihrem Mann herum, bejammert die Einschränkungen, die sie durch ihre Töchter erleidet (obwohl sie diese permanent für Reisen, ihre Arbeit oder andere Vergnügungen bei anderen abgibt), ist trotz des sozialen Gefälles immer noch von Neid und Eifersucht auf ihre „Freundin“ Lila zerfressen (und wünscht sich deren Tod, damit sie nicht mehr mit ihr konkurrieren muss) und stürzt sich Hals über Kopf in eine obsessive Affäre mit Nino (genau, diesem Womanizer, Schwängerer etlicher Frauen und Windhund). Besonders pikant, da Elena nach dem Flop eines zweiten Romans gerade mit dem Feminismus-Essay „Die Erfindung der Frau durch die Männer“ hervortritt. Elena selbst scheint sich einzig allein durch ihre Wirkung auf Männer und natürlich vor allem auf Nino zu definieren. Natürlich verhält sich Nino genau so, wie man es von ihm erwartet, was wieder endloses Gejammer und Gemaule der Ich-Erzählerin nach sich zieht. Kurz: Die Frau ist unerträglich.
Nun müssen Protagonisten natürlich nicht unbedingt sympathisch sein. Aber Elena Ferrante lässt so überhaupt keine Distanz zu Elena zu, bleibt so dicht dran, so dass die enorme Strecke, die es mit ihr zu bewältigen gilt (2200 Seiten!), schon ziemlich anstrengend wird.
Zum Glück, und Vorteil für das Buch, fließen eine Reihe von spannenden Ereignissen in die Freundschaftsgeschichte ein. Das Italien dieser Zeit ist ein Land der Unruhe – Studentenbewegung, Arbeiterproteste, Kämpfe zwischen Linken und rechten Faschisten, die linksextreme Brigate Rosse und zahlreiche politische Gewalttaten halten die Bevölkerung in Atem. Zwar bleiben die politischen Ereignisse immer Hintergrund, aber trotzdem sickert die Stimmung im Land ins Buch ein und hält es spannend. Auch gelingt es Elena Ferrante, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus gut einzufangen. Sie schafft dadurch ein grandioses Gesellschaftsbild.
Ein wenig haben die Bücher aber etwas von einer Soap Opera, gerade auch durch ihr großes Personenarsenal und die manchmal schon übertriebene Genauigkeit der Schilderungen. Das zieht sich bisweilen, lässt aber auch diesen Serien-Sog entstehen. Literarisch ist das weiterhin recht unspektakulär, aber unterhaltsam, immer wieder in der Spannung anziehend, vielschichtig und gut gebaut.
Deshalb greift man, wenn auch etwas weniger enthusiastisch, zu Band 4, „Der Geschichte des verlorenen Kindes“. Geschildert wird eine Zeit der Ernüchterung. Sie umfasst die Jahre 1976 bis 1995. Die Beziehungen von Elena und Lila scheitern, die beiden ziehen ihre Kinder fortan alleine groß (beide bekommen in ihren späten 30ern noch je eine Tochter) und das Alter klopft an die Tür. Kein Grund, die Laune zu heben. Und so geht auch das Bejammern, Beschweren, Beklagen weiter. Spätestens jetzt gehen bei mir sämtliche Sympathien und jegliches Mitgefühl mit Elenas Lage als Ehefrau und Mutter, an der ja nun tatsächlich so manches zu beklagen wäre, verloren. Sollte Elena Ferrante, so wie ihre Protagonistin, irgendwelche feministischen Absichten gehabt haben, hat sie ihnen mit dieser einen Bärendienst erwiesen. Allein, wie sie permanent ihre Kinder mit anderen vergleicht (oh, mein Gott, meine Tochter kann mit vier noch nicht flüssig lesen!) und jeden kleinen Makel, besonders äußerlicher Art, minutiös vermerkt, ist einfach furchtbar. Dabei muss sie sich gegen allen Augenschein immer wieder versichern, dass sie eine ganz großartige Mutter, eine tolle Schriftstellerin und natürlich eine wunderbare Partnerin ist.
Jene Jahre sind in Italien auch eine Zeit des Niedergangs, und zwar der politischen Linken, der die beiden Frauen zugeneigt waren (warum auch immer; gerade bei Elena kann ich nahezu kein politisches Bewusstsein ausmachen). Es ist die Zeit des Aufstiegs Berlusconis, und auch der windige Nino, immer noch betrauert und verfolgt von unserer Ich-Erzählerin, kommt auch zu politischen Ehren. Elena ist ihm nach ihrer Scheidung nach Neapel zurück gefolgt, wo er ihr zunächst eine Wohnung finanziert. Nach dem Bruch mit ihm lebt sie mit ihren Töchtern in Lilas Hochhaus unter nicht gerade standesgemäßen Umständen (Ihr ahnt es, Grund für jede Menge schlechte Laune). Zunächst läuft es mit der Schriftstellerkarriere nicht so besonders (woran die böse Ex-Schwiegermutter schuld ist), dann aber doch sehr gut. Ex-Mann und ältere Töchter sind mittlerweile an Universitäten in den USA gezogen.
Dieser letzte Band der Reihe ist für mich eindeutig der schwächste. Elenas selbst verschuldete Seelenqualen nehmen einen Großteil des Buchs ein, ihre Konkurrenz und ihre Eifersucht auf Lila erreichen (vielleicht durch die neue Nähe) einen weiteren Höhepunkt. Hin und wieder streut die Autorin mal etwas Interessantes ein, wie das Erdbeben in Neapel am 22. November 1980, ein paar politische Morde vor der Haustür oder das tragische Verschwinden von Lilas vierjähriger Tochter Tina, das nie aufgeklärt wird und dem Roman zum Titel verhalf – insgesamt passiert aber doch recht wenig.
Am Ende schlägt Elena Ferrante wieder den Bogen zum Anfang der Neapolitanische Saga: die Puppen, die den kleinen Mädchen damals in den Keller des bösen Don Achille gefallen sind, tauchen wieder auf. Auch die Rahmenhandlung, die den ersten Teil einläutete – die im Alter spurlos verschwundene Lina und die Aufzeichnungen, die daraufhin die Schriftstellerin Elena Greco von ihrer gemeinsamen Lebenszeit macht und die die Neapolitanische Saga bilden – bekommt wieder Raum.
2200 Seiten, ein wirklich kolossales Werk, zudem mit wirklich (zumindest für mich) schrecklich unsympathischen Protagonisten! Elena Ferrante ist eine wirkliche Könnerin, dass die Leserin, diesen Weg mit ihr mitgegangen ist. Trotz oder (gerade wegen?) des Widerstands, den das Geschilderte auslöste, den Ärger, den es hervorrief, trotz teilweise sich ziehender übertriebener Genauigkeit der Beschreibung.
Es ist sicher nicht nur der Sog der Seifenoper, die Vielzahl an Personen, die zunehmend vertraut werden und eine Unzahl von Blickwinkeln ermöglichen (trotz einer einzigen Ich-Erzählerin). Es ist dieser ungeschönte, gnadenlose, oft drastische Blick, den die Ich-Erzählerin auf sich selbst, die Menschen um sie herum und auf eine mittlerweile fast vergangene Welt und ihre alltäglichen Beschwernisse wirft, der fasziniert, irritiert und mitreißt. Die Neapolitanische Saga ist auch eine Saga über das Leben an sich und gleichzeitig ein breites und atmosphärisches Gesellschaftspanorama. Sie ist geschickt gebaut, gutund schnörkellos geschrieben und lässt Platz für Spekulationen, die über die Autorenschaft und den geschilderten Plot hinausgehen.
Das beginnt für mich damit, inwieweit sich die Autorin tatsächlich mit ihrer Hauptfigur und Ich-Erzählerin, die so manche Eckdaten mit ihr teilt, identifiziert. Und führt schließlich zu der von verschiedenen Kritikern geäußerten Interpretation, dass Lila und Elena nur zwei Facetten einer einzigen Person sind.
Diese Auslegung ist mir die sympathischste. Sie eröffnet eine neue psychologische Dimension und versöhnt mich ein Stück weit mit den Protagonistinnen.
Über die Neapolitanische Saga von Elena Ferrante zu schreiben, ist wirklich nicht einfach. Und erst recht nicht, dies in kurzer Form zu tun. Derart anregend auf die Kritikerin zu wirken, ist sicher auch ein – nicht zu kleines – Verdienst.
Beitragsbild: Rione Lieti-Capodimonte, Giulio De Luca by Pinotto992 [Public domain], from Wikimedia Commons
Schöne Besprechungen findet ihr auch für Band 3 und Band 4 bei Letteratura und bei Zeichenundzeiten.
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Elena Ferrante – Die Geschichte der getrennten Wege – Band 3 der Neapolitanischen Saga (Erwachsenenjahre)
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
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Elena Ferrante – Die Geschichte dedes verlorenen Kindes – Band 4 der Neapolitanischen Saga (Reife und Alter)
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
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Liebe Petra,
schön zu lesen, dass wir uns hier wirklich einig sind! Mich konnte Teil 1 sehr begeistern und Teil 2 genauso. Der dritte Band schwächelte in meinen Augen auch sehr und die Ich-Erzählerin nervte mich mit ihrer Art auch sehr. Bis auf den geschichtlichen Hintergrund, wie du es oben erwähnst, konnte mich die Geschichte nicht mehr einfangen. Vom Abschlussband war ich gleichermaßen genervt und enttäuscht. Ich habe alle Teile gehört und das war ein großer Pluspunkt, da Eva Mattes dieses monströse Gesamtwerk einfach grandios interpretiert. Doch den letzten Teil konnte auch sie nicht wirklich retten. 😉
GlG, monerl
Liebes monerl, Teil 3 konnte mich noch ein wenig durch die zeitpolitischen Umstände fesseln. Bei Teil 4 war mir einfach zuviel Elena Gejammer. Eva Mattes kann da sicher einiges retten, aber nicht alles. Liebe Grüße, Petra
Ich habe den vierten Band noch vor mir. Ich lasse mir immer etwas Zeit, bis die anfängliche Begeisterung etwas abgeebbt ist, um unvoreingenommen das Buch zu betrachten. Auf alle Fälle haben mir die ersten drei Bände sehr gut gefallen, weil es eben um mehr geht als nur um eine Freundschaft zwischen zei Mädchen/Frauen. Ich danke sehr für die Verlinkung. Viele Grüße