2017 erhielt Éric Vuillard für sein schmales „L´ordre du jour“ – Die Tagesordnung – den begehrten Prix Goncourt. Im Original trägt es die Gattungsbezeichnung „récit“, was nur etwas unzureichend mit „kurze Erzählung“ übersetzt werden kann, denn bei einer „Erzählung“ geht man in der Regel von einer fiktiven Geschichte aus. Aber: „On appelle récit tout texte racontant une histoire (un enchaînement d’événements) qu’elle soit fictive ou réelle.“ Also ein etwas weiter ausgelegter Begriff für „Erzählung“. Dennoch eher eine überraschende Entscheidung, werden doch für den „Goncourt“ meist episch breitere fiktionale Werke ausgewählt. Und hier nun das knapp über 100 Seiten starke doku-fiktionale Werk, das sich zudem noch mit deutscher Geschichte beschäftigt.
Das hat natürlich mit dem Sujet des Textes zu tun. Éric Vuillard erzählt als nachgeborener Franzose (Jahrgang 1968) von der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs, von der Machtergreifung durch die Nazis und den vielen kleinen Rädchen, die ineinandergriffen und schließlich zu der großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts führten. Und er erzählt davon weder rein faktengetreu berichtend noch anhand von (fiktiven) Einzelschicksalen exemplarisch-empathisch, sondern er vermischt. Am ehesten ähnelt sein Verfahren (man nennt es mittlerweile bereits die Methode Vuillard, da er sie bereits in seinen vorhergehenden Texten angewandt hat) dem, was man in bestimmten TV-Formaten an Geschichte vermittelt bekommt (z.B. ZDF-History). (Zeit)historische Ereignisse werden an realen Personen und charakteristischen Momenten „erlebbar“ gemacht. Kondensierte Geschichte. Autor und Leser rücken ganz nah an die Ereignisse, spielen das berühmte „Mäuschen“ in prägnanten historischen Situationen. Und tatsächlich ist Éric Vuillard auch Filmemacher, ist sein Erzählen dadurch erkennbar geprägt.
Seine „Erzählung“ beginnt am 20. Februar 1933. Die Machtübergabe an Adolf Hitler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 liegt gerade drei Wochen zurück, die sie rechtfertigen sollende Reichstagswahl steht am 5. März unmittelbar bevor. Die NSDAP sucht Geldgeber, um den „Wahlkampf“ noch einmal zu intensivieren.
Éric Vuillard erklärt der Legende von der „Stunde Null“, des moralischen Neuanfangs nach dem Krieg, eine eindeutige Absage. Es sind die gleichen Größen der Wirtschaft, die auch heute noch das Sagen haben. Gustav Krupp, Wilhelm von Opel, Günther Quandt, Friedrich Flick, Hugo Stinnes und Ernst Tengelmann – ihre Firmen haben Drittes Reich und Krieg nahezu unbeschadet überstanden. Eine Strafverfolgung für ihre Aktivität zwischen 1933 und 1945 blieb nahezu aus.
Sicher, ein wenig Arroganz der Nachgeborenen, ein wenig Besserwisserei liegt in diesem Erzählansatz. Zumal der Autor nicht mit Spott, Häme, Sarkasmus und auch dem ein oder anderen nicht ganz gelungenen Witzchen auf die damaligen Ereignisse zurückschaut. Einige Kritiker warfen ihm auch seine moralische Empörung vor.
Sicher hatten die damals Handelnden nicht unsere Einsicht in die Entwicklungen. Aber auch mit dem heutigen Wissen muss man wertend auf die damalige Zeit blicken dürfen. Zumal es Éric Vuillard um die Alternativen geht, um die Handlungsspielräume, die es auch in vermeintlich „alternativlosen“ Situationen (wir begegnen dieser Vokabel gerade heute wieder viel zu häufig) gegeben hätte. Alternative Geschichte und, auch im Hinblick auf die Gegenwart, Frühwarnzeichen, die man hätte erkennen und entsprechen hätte handeln können.
20.11.37, Bundesarchiv, Bild 102-17986 / CC-BY-SA 3.0 via Wikimedia commons
„Nationalismus und Rassismus sind starke Kräfte, die ich jedoch weder als widernatürlich noch als unmoralisch erachte!“
so Halifax in einem Brief über das Treffen an Premierminister Stanley Baldwin.
Atlantic-Photo, Bundesarchiv, Bild 137-049270 / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons
13.3.1938 Presse-Bild-Zentrale, Bundesarchiv, Bild 137-049271 / [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons
„Die größten Katastrophen kommen oft auf leisen Sohlen.“
und
„Was an diesem Krieg verblüfft, ist der unerhörte Erfolg der Frechheit, der uns eines lehren sollte: Die Welt gehorcht dem Bluff. Selbst die seriöseste, steifste Welt, selbst die alte Ordnung, die sich niemals dem Anspruch der Gerechtigkeit beugt oder vor dem aufständischen Volk einknickt: Sie tut es vor dem Bluff.“
Große, geräuschvolle Inszenierungen, sogar für den ausländischen Geheimdienst gefakte Telefonate, die Propagandamaschine der NSDAP lief stets auf Hochtouren. Bis heute prägen die Bilder der Wochenschauen unseren Blick auf die Zeit und stehen den Panoramen der großen Illusionsfabrik Hollywood in nichts nach.
Éric Vuillard hält diesen ablaufenden Film in Die Tagesordnung für prägnante „Stills“ an, zoomt hinein, hält sich an dekorativen Details fest und öffnet gerade dadurch den Blick für das Ganze. Er malt aus, ergänzt essayistisch, kommentiert, ätzt. Sicher, auch ich zucke zusammen, wenn er die Teilnehmer der Münchner Konferenz 1938, die die Tschechoslowakei „verhökerten“, als „Butzemänner“ bezeichnet. Wenn er von den Wiener Gaswerken erzählt, die kurzerhand ihren jüdischen Kunden das Gas abgestellt haben, nachdem deren Verbrauch kurz vor dem Anschluss dramatisch angestiegen war.
„Die größten Katastrophen kommen oft auf leisen Sohlen.“
Das mag man anmaßend nennen. Ich finde es notwendig, erhellend, sprachlich brillant. Ein Meisterwerk!
Beitragsbild: Reichskabinett Adolf Hitler, Bundesarchiv, Bild 183-H28422 / [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons
Weitere Besprechungen auf Literatur leuchtet, bei der Buchbloggerin und auf Lesen in vollen Zügen
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Éric Vuillard – Die Tagesordnung
Originaltitel: L’Ordre du Jour (Französisch)
Übersetzung: Nicola Denis
Matthes & Seitz Berlin März 2018, 128 Seiten, Gebunden, € 18,00
Danke für diese Besprechung. Ein Buch, das man lesen sollte mit dem Blick auf heutige Geschehnisse: Bluff, Grossspurigkeit und Frechheit (unterstützt von allgemeiner Blindheit) sind gerade dermassen en vogue, dass einem angst und bange wird.
Danke für deine Rückmeldung! Ja, das Buch sollte von sehr vielen und sehr sorgfältig gelesen werden. Das ist auch meine Meinung! Viele Grüße, Petra
Tolle Besprechung und wieder ausführlich bebildert … Danke!
Viele Grüße!