Der nordwestlich von Manchester gelegene Küstenort Blackpool gilt in England als eine Geburtsstätte des Massentourismus und zeigt zugleich dessen Risiken. Schon im 18. Jahrhundert ein Seebad für die nordenglische Bevölkerung, erlebte es im Zeitalter der Industrialisierung einen enormen Aufschwung durch die Arbeiterklasse, die Blackpool zu ihrem bevorzugten Urlaubs- und Ausflugsort machte. Wer schon einmal durch englische Badeorte geschlendert ist, weiß um die Tristesse, die viele von ihnen ergriffen hat, nachdem die Urlaubsziele rund ums Mittelmeer immer billiger zu erreichen sind. Auch Blackpool ist dem Niedergang nicht entkommen. Einmal im Jahr allerdings, wenn der Sommer endet und bevor der Winter die britischen Inseln im Griff hat, erlebt die Stadt ihre berühmten „Illuminations“. Die Stadt, ihre Häuser, der Blackpool Tower und vor allem ihre Promenaden und Piers erstrahlen in einem farbigen (ungeheuer kitschigen) Glanz, der durch sein Leuchten die Trostlosigkeit überdecken und an vergangene Tage als großes Seebad erinnern soll. In seinem bezaubernden Roman „Das Leuchten über Blackpool“erzählt Andrew O´Hagan davon.
„The Illuminations“ geben auch dem Roman des schottischen Autors Andrew O`Hagan, mit dem er 2015 auf der Longlist des Man Booker Prize stand, seinen Namen. Das deutsche „Leuchten über Blackpool“ gibt den Zusammenhang leider, wie so oft bei übersetzten Titeln, nur sehr unzureichend wieder. Denn „illuminations“ sind eben nicht nur Illuminierungen, Beleuchtungen, sondern auch Erleuchtung, Erhellung des Geistes, Aufklärung.
Um den Geist von Anne Quirk ist es nicht zum Besten bestellt. Die 82jährige Bewohnerin eines Seniorenheims im westschottischen Saltcoats gleitet immer mehr in eine Demenz hinein. Es ist absehbar, dass ihr Umzug in ein Pflegeheim bevorsteht. Die etwas jüngere Nachbarin Maureen kümmert sich rührend um sie, hat aber selbst zu ihrer eigenen Familie ein eher schwieriges Verhältnis. Auch Anne und ihre Tochter Alice, die sie allein großgezogen hat, haben ihre Probleme miteinander, wie so oft vor allem kommunikativer Art. Nie hat die Mutter mit Alice über den Vater und ihre gemeinsame Geschichte gesprochen. Alice fühlt sich ungeliebt und unverstanden. Die Trauer um ihren in jungen Jahren im Nordirland-Konflikt erschossenen Mann ist auch heute noch, auch in ihrer zweiten Ehe, präsent.
Mit ihrem Enkel Luke verbindet die alte Dame aber ein herzliches und offenes Miteinander. Luke schätzt vor allem, dass seine Großmutter ihn immer unterstützt und schlummernde Potentiale in ihm geweckt hat.
Zu Beginn des Romans befindet sich Luke, in die Fußstapfen des Vaters tretend, aber als Captain der Royal Western Fusiliers in Afghanistan. Ein Militäreinsatz führt durch Rebellengebiet, um Ausrüstung zu einem Energiewerk am Kajaki-Staudamm zu transportieren. Ein Einsatz, bei dem gehörig etwas schiefgeht.
Eine ganze Weile laufen die beiden Erzählstränge von Anne und Luke lose nebeneinander her, nur durch das Verwandtschaftsverhältnis der beiden verbunden. Dabei unterscheiden sie sich enorm im Ton der unterschiedlichen personalen Erzählstimmen. Der Strang in Schottland ist feinfühlig, zart, durch den Abschied Annes von ihren geistigen Kräften und ihrem vertrauten Umfeld bestimmt. Die Erzählabschnitte in Afghanistan sind spannend, actionreich, rau und mit derben Dialogen unter den Soldaten gewürzt. Beides wirkt authentisch und überzeugend.
Nach dem katastrophal geendeten Einsatz in Afghanistan traumatisiert zurückgekehrt, wird Lukes Erzählstrang mit dem von Anne (und Alice) enggeführt. Der Ton wird wird nachdenklich und melancholisch. Und führt zum Leitmotiv des Romans, den „Illuminations“.
Da sind zum einen natürlich die Illuminations in Blackpool, an die Anne wunderbare Erinnerungen hat. In den Sechzigerjahren traf sie sich hier regelmäßig mit dem verheirateten Harry Blake, dem Vater von Anne. Er war, wie Anne in ihren Jugendjahren in Amerika, über die ihre Familie erst jetzt Näheres erfährt, ein bedeutender Dokumentarfotograf. In einer kleinen Wohnung in Blackpool hatten die beiden eine Dunkelkammer, in der sie ihre Filme „beleuchteten“. Luke und Anne fahren kurz vor der Übersiedelung ins Pflegeheim noch einmal dorthin. Briefe, Fotos, Gespräche bringen Dinge ans Licht, von denen die Familie bisher nichts wusste.
Parallel zu dieser Erinnerungsarbeit, zu diesem Kampf gegen das Vergessen und Lukes Bemühen um Aufklärung von Dingen aus der Vergangenheit seiner demenzkranken Großmutter, um „Erhellung“, steht sein eigenes Bestreben um Verdrängung der Erlebnisse in Afghanistan. Hier möchte jemand vergessen, während der andere mühsam jeden Erinnerungszipfel festhält.
Andrew O´Hagan gelingen mit „Leuchten über Blackpool“ zwei vielschichtige Charakterstudien, ein feinfühliger Familienroman und eine nachdenkliche Geschichte um Erinnerung, Loyalitäten, Verlust. Nicht zuletzt ist es ein eindrückliches Plädoyer gegen die Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges und ein Nachdenken über Patriotismus (denn Anne und ihre Familie sind glühende schottische Patrioten), ohne dies explizit zu betonen.
„`Und jeder stellt sich die Welt so vor, wie er sie gern hätte, so wie der Typ mit dem Turban und dem Sprengstoff um den Bauch glaubt, dass er zu Allah geht. Auch er glaubt, dass er sein Land liebt. Und er glaubt, dass sein Land ausgebeutet wird. Und er glaubt, dass seine Kumpel eine Nation sind.´ `Das glaubst du doch nicht wirklich, Luke. Du bist in einem Land mit Traditionen aufgewachsen, und du hast sie geliebt.´ `Es ist ein Spiel, Mama. Ein großes Spiel. Wir haben nur daran geglaubt, solang es angedauert hat. Ich liebe mein Land wegen seiner Berge und Erfindungen, nicht wegen dem Gefühl der Leute, verletzt worden zu sein, nicht wegen ihres sentimentalen Traums, dass es niemanden gibt wie uns. Ich bin in der Welt herumgekommen, und ich kann dir sagen, dass sie alle genau so sind wie wir: Verzweifelt und müde kämpfen sie um einen Weg in die moderne Welt. Ich weiß nicht, was dich zu der Überzeugung gebracht hat, dass man ein besserer Mensch wird, wenn man Mauern baut.´“
Und wunderbar ist auch, dass der Autor das Ganze durchaus mit einem feinen Witz versetzt und hoffnungsvoll enden lässt. Ein schöner Roman.
Beitragsbild: Blackpool Tower & Big Wheel Illuminations by Henry Brett (CC BY 2.0) via Flickr
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Andrew O´Hagan – Leuchten über Blackpool
Übersetzt von: Anette Grube
S. FISCHER August 2018, Hardcover, 352 Seiten, gebunden, € 22,00
Und schon hast du mich wieder am Haken, Petra. Das ist bald kein Merkzettel mehr, sondern ein Merkbuch. 🙂 – Hier kommen gleich mehrere Dinge zusammen, die mich neugierig machen. Schottland, der Afghanistan-Krieg und dann … Blackpool. Eine Stadt, welche erst im letzten Jahr mein Interesse geweckt hat, nachdem ich eine Dokumentation über das Leben von Freddie Frinton im Fernsehen verfolgt habe. Die Uraufführung des später hierzulande so bekannten „Dinner for One“ fand in Blackpool statt. Und den Aufstieg der Stadt als Vergnügungsmeile sowie ihr späterer Niedergang ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. O’Hagans Buch klingt daher nach einem Muss-Kauf.
Lieber Stefan, so macht Angeln Spaß! 😉 Blackpool kommt tatsächlich nur am Schluss vor, ist mehr ein Sehnsuchtsort. Und Afghanistan nur aus der Warte der Soldaten. Schottland schon ein bisschen mehr. Aber abgesehen von all den Örtlichkeiten mochte ich das Buch und habe ein wenig das Gefühl, als würde es in der Neuerscheinungsflut eher untergehen. Viele Grüße!
Du kannst Dir was darauf einbilden. Immerhin haste einen gelernten Buchhändler geangelt. *lach* Wenn ich gleich von der Arbeit nach Hause komme, sollte es schon auf mich warten. Mal schauen, wann ich es in Angriff nehme. Momentan lese ich Franklins „Die Gefürchteten“. Harter, aber starker Tobak in der Tradition von Faulkner. Danach statte ich dem Planeten Dune meinen vierten Besuch ab. Viele Grüße zurück!
Viel Spaß. Ich bin gespannt.